Dienstag, 20. September 2016

Mach mal weniger Ausrufungszeichen.

Ganz allmählich legt sich die Schnappatmung. Selbst die größte Aufregung nutzt sich irgendwann ab: WAAAAAAAH! EIN KIND!!!!!! UND ALL DER ALKOHOL!!!! UND DIE FLUPPEN!!!!!!!! UND MEIN JOB!!!! UND MEIN LEBEN!!!! UND MEINE NERVEN!!!!!! UND MEINE BEZIEHUNG!!!!! Und überhaupt, irgendwann geht das Fusselhirn erst in normale Groß- und Kleinschreibung über und dann zum Entspannen und Freuen und dann kommen auch schon all die kleinen Popel-Aufreger um die Ecke. Zum Beispiel der, dass wir in den letzten sechs Monaten systematisch den Babykram losgeworden sind: Fläschchen-Sterilisier-Gerät, Riesenlaufstall, Doppelkinderwagen, Maxi-Cosi in Tipptoppzustand, Babybay, Stubenwagen, Mini-Strampler und -Schlafsäcke und -Mützchen und all der andere Kram: alles unwiderruflich weg. Oder der, dass H&M zum ersten Mal nicht die übliche Bank für Schwangerschaftskram ist: wieso gibt es da gerade acht verschiedene Skinny- und Super-Skinny-Jeans und keine einzige meiner stinknormalen guten alten Schwangerschaftsjeans, auf die ich mich jetzt seit drei Wochen freue, nämlich seit mein Viermonatsbauch aussieht wie ein Sechsmonatsbauch? Und wieso ist natürlich wieder etwas, diesmal nämlich die Nabelschnur, die nur eine Arterie hat? (Spezialistinnen unter den Lesern: ich weiß, dass das hoch korreliert mit manchen Gendefekten, aber die haben wir schon so gut wie sicher ausgeschlossen.)

Und dann liege ich da auf der gepolsterten Bank, und die Ärztin glitscht mit dem Ultraschalldings auf meinem Bauch herum, und sie sagt, dass das Gesicht gut aussieht. Und das Zwerchfell. Und der Kopf und das Gehirn. Das Herz sowieso. Die Füße sind diesmal gerade, alles ist richtig lang und richtig groß und auch sonst völlig in Ordnung, und ich habe wieder ein bisschen weniger Angst vor meinem schlimmsten Albtraum - einem FAS-Baby - und dann sagt sie: "Ach ja. Hab ich schon gesagt? Es wird ein Mädchen."

Ein zähes kleines Luder! Mit kleinen Gummistiefeln und Krusten am Knie und Latzhosen! Und mit Glitzeraufklebern und Snoopy-Spardose und Wendy-Heften! (Gibt es die noch?) Und jetzt rege ich mich erst mal über gar nichts mehr auf, weder groß noch klein. Ich schaffe das nämlich. Mundwinkel hoch, Rücken gerade, Bauch raus.

Dienstag, 6. September 2016

p.s.

Diese Schwangerschaftstests, vor allem der zweite, haben mir keine Ruhe gelassen. WTF,Schwangerschaftstests? Diesmal förderte Googeln ein sinnvolles Ergebnis oder jedenfalls eine mögliche Erklärung zutage: laut einer seriös klingenden Studie sind Schwangerschaftstests häufiger falsch negativ bei Frauen, die in der Nachtschicht arbeiten. Und in den letzten Monaten gab es einige Nächte, leider oft auch drei-vier hintereinander, in denen Michel und Kalle beide zwischen Mitternacht und halb sieben so gut wie keinen Schlaf zugelassen haben.

Ich war im Studium immer ganz gut in Stochastik, also Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber so gut nun auch wieder nicht. Kann mal kurz jemand, der das besser kann, für mich ausrechnen, wie wahrscheinlich das ist? Die Wahrscheinlichkeit folgender kombinierter Ereignisse:
1. 43, 2. mit Endometriose und eigentlich verstopften Eileitern und 3. verschobenem Zyklus, 4. extrem wenig Gelegenheit, 5. zum offiziell falschen Zeitpunkt, 6. nach wochenlangen Blutungen, 7. auch sonst keinerlei Schwangerschaftsanzeichen, mit 8. einem verpassten Arzttermin wegen eines perfekt getimten Magen Darm-Infektes und 9. auch noch in genau der richtigen hormonellen Lage, um einen falsch negativen Test in der siebten Woche zu produzieren?

Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, mit Lotto im großen Stil anzufangen?

Ihr habt's vielleicht geahnt. Ich jedenfalls nicht.

Einmal im Jahr, so ungefähr zwischen Mitte Mai und Mitte Juni, bekommt mein Fusselhirn eine Extraaufgabe. Dann taucht neben all dem anderen Kram, der mir ständig unverlangt durch den Kopf spukt, auch noch das Thema auf, was denn nun mit den Eizellen wird? Den befruchteten Eizellen, die damals übrig waren, weil das mit Michel so sensationell und unerwartet schnell geklappt hat, nämlich gleich beim ersten Versuch nach Kalle. Die liegen bis heute im Kryoschlaf in einem Labor irgendwo in Altona (nehme ich an), und immer um diese Zeit kommt die Jahresrechnung für die Lagerung. Die Rechnung besteht aus einem freundlichen Anschreiben, dem Überweisungsvordruck und einem Formular, das man ausfüllen und abschicken soll für den Fall, dass man keinen Wert mehr legt auf diese Eizellen. Darauf gibt man dann an, feierlich und für immer, dass die kleinen Tiefkühlwürmchen entweder der Forschung zur Verfügung gestellt werden oder direkt aufgetaut und vernichtet. Vernichtet! Vernichtet. Ich war immer ein entschiedener und bei Gelegenheit auch extrem und lautstark überzeugter Abtreibungsbefürworter, selbst zu unerfülltesten Kinderwunschzeiten - jede Frau soll das selbst bestimmen können, da hat ihr kein Kirchengreis und kein CSU-Landrat reinzuquatschen. Aber es war auch immer schon ziemlich sicher, dass sich kaum Umstände denken lassen, unter denen das FÜR MICH in Frage kommt. Nicht vor der Kinderwunschzeit, nicht währenddessen (Ach?) und auch nicht danach. Und obwohl ich schon zwei mal im Leben die Pille danach genommen habe, fühlte sich dieser Embryo-Vernichtungsbogen doch anders an. Nämlich so, dass ich ihn irgendwie nicht ausfüllen und abschicken konnte, auch wenn klar war - aus hundert vernünftigen Gründen - dass ein drittes Kind ein Schnapsidee wäre. Dazu gleich noch. Die jährliche Lagerungsgebühr war zwar nicht gerade wenig, aber trotzdem ein Schnäppchenpreis dafür, diese für mich schier nicht zu treffende Entscheidung noch ein weiteres Jahr aufschieben zu dürfen. Zum Beispiel so lange, bis ich es mir anders überlege. Oder wirklich zu gebrechlich für noch ein Kind bin. Oder bis das Thema Eizellenspende gut geregelt ist. (Ich merke gerade, dass dieses ethisch ziemlich komplizierte Thema mich jetzt gerade, an diesem sonnigen Vormittag mit meiner Tasse Tee am Rechner, fürchterlich überfordert, also lasse ich das jetzt und komme vielleicht endlich zum Punkt. Welcher war das noch mal? Da war doch was...)

Ende Mai habe ich die Rechnung bezahlt, und Ruhe war, wenn auch natürlich nur wieder Ruhe auf Zeit. Das Fusselhirn gab Ruhe, und fast zeitgleich fing der Fusselbauch wieder an, Ärger zu machen. Nach einem Jahr voller Splatter-Perioden hatte ich plötzlich gar keine mehr, stattdessen fiese Dauerblutungen und ab und zu auch fiese Schmerzen. Der letzte Ultraschall sah danach aus, als wäre die Endometriose wieder stark im Kommen, da waren merkwürdige Einschnürungen oder was weiß ich, jedenfalls hatte mir meine Ärztin in Aussicht gestellt, irgendwann in den nächsten Monaten könnte es sein, dass wir eine neue Bauchspiegelung ins Auge fassen sollten. Ich dachte, na gut - nicht schön, aber andererseits, welche Mutter von zwei kleinen Kindern sagt schon nein zu drei Tagen im Krankenhaus allein mit ihrem Kindle? Jetzt schien es so weit zu sein. Ich hatte also einen Arzttermin, zu dem konnte ich aber nicht gehen, denn zwei Stunden vorher hat mir Kalle eine Magen-Darm-Grippe aus der Hölle verpasst. Dann habe ich es für ein paar Wochen aus den Augen verloren, wir haben die Kinder getauft, da war einiges zu organisieren, ich habe wieder richtig zu arbeiten angefangen, endlich, und dann sind wir für ein paar Tage nach London geflogen, L. und ich. Inzwischen war meine letzte Periode sechs Wochen her, und ich dachte - kann ja eigentlich nicht sein, aber ich mache wohl mal einen Test. Der Test war negativ. Ich holte von Zeit zu Zeit mal meinen Kalender vor und guckte, wann ich denn wohl Zeit für einen Arzttermin und einen kurzen Krankenhausaufenthalt haben würde, aber so dringend war es ja nicht, und viel Luft war da auch nicht - ich wurschtelte also weiter so vor mich hin, wozu gibt es Tampons? Dann stand eine große Hochzeit ins Haus, und immer noch keine echte Periode. Inzwischen war Mitte Juli. Ich habe noch mal einen Test gekauft, diesmal einen poshen Clearblue mit Sprachanzeige. Negativ. Urlaub, Arbeit, mehr Arbeit, Kinderbetreuen, Kitawechsel, Schmierblutungen. Und dann, vor zweieinhalb Wochen, reichte es mir doch, und ich hatte wieder mal einen Arzttermin. Ich dachte, vielleicht kriege ich die Bauchspiegelung sogar noch im September unter, bevor wir für eine Woche an die See fahren? Und vor der Hochzeit einer meiner besten Freundinnen? Am Vorabend saß ich noch mit meinen Freundinnen am Küchentisch, es gab ordentlich Vinho Verde und auch bestimmt zehn Kippchen. Auf dem Heimweg hatte ich noch kurz den Impuls, noch eine zu rauchen, dachte dann aber aus irgend einem Grund, ach lass mal.
Und dann saß ich vor meiner Ärztin und erzählte ihr das alles. Sie kennt mich noch nicht so lange, ich war vorher erst einmal bei ihr, denn die Ärztin aus der gleichen Klinik, die die Schwangerschaften betreut hat und gründlich im Bilde über all den Abkürzungskram in meinem Bauch ist, die lebt inzwischen im Rheinland. Also habe ich erzählt und erzählt. Dann bin ich auf den Stuhl gestiegen, Abstrich, weitererzählt. Inzwischen machte sie das Ultraschall-Dings klar, und ich dachte noch für eine Sekunde, bitte kein Krebs - bitte nur die gute alte Endo. Und dann sagte sie: "So, und jetzt unterbreche ich Sie nur ungern, aber - "
Und da war es. Auf dem Schirm. Ein Würmchen, eindeutig. Mit Kopf, Armen, Beinen, Herzschlag. "Ich würde sagen, 9 plus drei", sagte die Ärztin. Ich sagte erst mal gar nichts mehr und dann eine Menge.

Ich war noch nie in meinem ganzen Leben so dermaßen geschockt.

Denn das konnte, ehrlich, das konnte nicht sein.
Erstens bin ich unfruchtbar.
Zweitens 43.
Drittens gab es ehrlich gesagt nur eine Gelegenheit, überhaupt schwanger zu werden, in den letzten Monaten.
Viertens lag zu diesem Zeitpunkt meine letzte Periode schon viele, nämlich fünf Wochen zurück.
Fünftens ist die Endometriose gerade angeblich noch schlimmer als damals zu schlimmsten Abkürzungszeiten.
Sechstens war das nicht so abgemacht.
Siebtens läuft es gerade zwischen L. und mir streckenweise nicht besonders rosig. Auf jeden Fall nicht gerade "Wäre es nicht wunderbar, unserer Liebe ein weiteres, speckbeiniges kleines Denkmal zu setzen, mein Zuckerschnütchen?"-mäßig rosig.
Achtens habe ich nicht einen, sondern zwei Tests gemacht, und jetzt kommt mir nicht mit "vielleicht hast Du den falsch angewendet", wenn einer weiß, wie Schwangerschaftstest geht, dann ja wohl wir Abkürzungsdamen. Der erste Test war vielleicht noch ein bisschen zu früh, der zweite - da war ich in der siebten Woche.
Neuntens - und Schlimmstens - war das nicht der Sommer des Kamillentees und der Vollkornbrote. Wir waren auf zwei Hochzeiten, von denen eine nachts um vier nach reichlich Gin Tonics endete. Fast jeden Mittwoch saß ich an besagtem Küchentisch, vor mir ein stets gut gefülltes Glas Weißwein und eine zunehmend leerere Schachtel Kippen. L. und ich waren in einem Urlaub, in dem es eine Woche lang jeden Abend ein bis anderthalb Gläser Wein im Restaurant gab und wir hinterher in unserer Wohnung noch eine Flasche Wein aufgemacht haben. Ehrlich gesagt war das mein erster Gedanke, während ich da so breitbeinig und plötzlich im dritten Monat auf dem Stuhl hing. Nicht-Abkürzungsdamen schockt das vielleicht weniger - wenn man erst in der fünften oder sechsten Woche aus heiterem Himmel von einer Schwangerschaft erfährt, dann wäre man schon ein sehr, sehr braves Mädchen, wenn die letzten paar Wochen zufällig sowieso alkoholfrei gewesen wären. Aber nach einer IVF ist von der ersten Minute an Ausnahmezustand, und wer auch nur mit dem dicken Zeh über die Linie in verbotenes Terrain piekt, ist ja wohl selbst Schuld und muss sich nicht wundern, wenn jetzt alles schief geht. Bei Kalle und Michel war ich brav! So brav! Ich habe fast einen hysterischen Anfall bekommen, als ich einmal versehentlich in ein mit Mayonnaise geschmiertes Brötchen gebissen habe. So war ich! Nicht immer, aber oft genug. Und jetzt das: gesoffen, geraucht wie ein Schlot, von Sushi wollen wir gar nicht reden. Wieso muss das jetzt passieren? Nach diesem Sommer? Im Frühjahr z.B. hätte das glatt passieren können - sechs zufällig so gut wie alkoholfreie Wochen. Wieso Wieso Wieso?

Die Ärztin hörte sich das alles an und sagte dann, vermutlich wäre alles gut gegangen, ich sollte aber zur Sicherheit und zur Beruhigung bitte einmal mit Embryotox sprechen, die nun mal die Spezialisten für jede Art von Chemie sind, die einem Embryo schaden kann oder nicht. Das habe ich dann getan. (Natürlich hab ich auch gegoogelt, ich bin auch nur ein Mensch. Sollte hier eine mitlesen, der es ähnlich geht wie mir - gibt es so jemanden? Außerhalb von RTL2? Eine plötzlich schwangere Unfruchtbare, die es erst Mitte dritter Monat merkt? Nein? Komisch. Jedenfalls - ich denke die ganze Zeit drüber nach, aber mir fällt kein Thema ein, bei dem Googeln eine noch schlechtere Idee ist. Wirklich keins.) Embryotox wollte genau wissen, wann ich wie viel wo von getrunken habe, dann haben sie all das (es war eine Menge) in ihren Rechner eingegeben, und das Ergebnis war, dass vermutlich tatsächlich alles gut gegangen ist, eine Garantie gibt es nicht, aber die Aussichten sind sehr gut, dass Würmchen dieses wochenlange Discofieber überstanden hat. Und wehe, irgend eine will das jetzt mit aller Gewalt falsch verstehen und denkt, dieser Blog würde Werbung dafür machen, in der Frühschwangerschaft noch mal ordentlich reinzuhauen. Wehe!

Und jetzt?
L. hat es mit fröhlicher Fassung getragen. Als ich totenbleich nach Hause kam und ihm die Nachricht überbrachte, stellte sich heraus, dass er sich im Gegensatz zu mir tatsächlich Sorgen um meine Gesundheit gemacht hatte und erleichtert war. Außerdem ist das ein 1a Vorwand für seine Lieblingsbeschäftigung: nach noch größeren, noch tolleren Wohnungen zu gucken. Ich bin immer noch schwanger, seit gestern im vierten Monat. Embryotox hat mir empfohlen, doch bei den ersten Scans besonders genau hinzugucken, denn die Schäden in der Frühschwangerschaft durch Alkohol sind im Zweifel welche, die man mit etwas Glück sehen kann - ein zu kleines Hirn, ein zu kleiner Kopf, Organschäden usw. Meine Ärztin ist rührend und macht das jetzt einfach so, so dass ich jetzt innerhalb von zwei Wochen zwei extragründliche Super-Ultraschalls bekomme. Der erste war unauffällig, der Harmony-Test auf die häufigsten genetischen Störungen auch, und in neun Tagen habe ich noch einen Scan, bei dem man hoffentlich schon mehr sehen kann. Ist der auch gut, dann bekomme ich tatsächlich noch ein Kind. Einfach so. Ohne Menogon, Enantone, Gonal, Crinone, Utrogest und ohne Einnistungsspritze. Manchmal denke ich, ich stehe immer noch unter Schock. Meistens sogar. Manchmal freue ich mich fürchterlich. Manchmal denke ich, ich bin vollkommen bescheuert und schaffe das nie. Manchmal denke ich, aber ich habe doch gerade erst den Bandscheibenvorfall und die Beckenbodenschwäche hinter mir, gerade kann ich wieder arbeiten, gerade kommen die Kinder beide in die gleiche Kita in Laufentfernung, gerade wird es leichter und lustiger hier, gerade fängt Michel an zu sprechen und gerade haben wir fast den ganzen Babykram den Flüchtlingen gespendet oder verkauft. Dann freue ich mich wieder, und dann stehe ich wieder unter Schock. Und der Alkohol macht mir immer noch Angst, so schlimm, dass ich trotz der netten Ärztin von Embryotox manchmal kaum Luft bekomme.

Und jetzt ihr. Was sagt man dazu?