Freitag, 2. Januar 2015

Hallo wach.

Ich hatte keine besonders nette Schulzeit. Alles war blöd: meine Eltern, meine Lehrer, die anderen aus meiner Klasse. Der Ärger ging über das normale Pubertätsgeschmolle hinaus, ich war ziemlich einsam, habe mich geprügelt und hoffte nur noch, meine Eltern würden endlich die Drohung wahr machen, mich aufs Internat zu schicken, was sie vermutlich niemals wirklich vorgehabt haben und was sehr wahrscheinlich nichts geändert hätte, denn ich wäre immer noch die Selbe gewesen. Dann kam ein Tag, einer wie jeder andere: zum Frühstück Ärger mit meinem Bruder, auf dem Schulweg Ärger mit den Hauptschuljungs, in der ersten Stunde Latein und ab dann auch nicht besser - aber irgendwas war anders. Ich saß da, so ungefähr 20 Minuten weit in die Deutschstunde, und sah mich so um in der Klasse, und dachte auf einmal nicht nur, sondern fühlte auch: eigentlich sind die doch gar nicht so schlimm. Eigentlich geht es doch. Eigentlich könnte es schlimmer sein. Und vielleicht wird ja doch noch alles gut. Und das war der Anfang davon, dass es wirklich besser wurde. Nicht schlagartig, ein paar Prügeleien gab es noch, und Latein hatte ich sogar noch bis zum Abi, aber das Schlimmste war vorbei. (Hab ich schon mal erzählt, oder? Hab ich bestimmt, wie fast alles hier, vermutlich sollte ich dem Befehl der Kommentardame folgen und es einfach lassen.)

Gestern nachmittag ist mir das wieder passiert. Ich weiß nicht, wieso. Es hatte auch erst mal nicht den Anschein von "Lächle, und dein Baby lächelt zurück". Aber seit gestern nachmittag geht es mir besser. So viel besser, dass ich nicht nur erschrocken darüber bin, wie schlecht es mir vorher ging und wie sehr ich versucht habe, das weg zu rationalisieren und weg zu hypnotisieren. Es liegt auch nicht an letzter Nacht, die war genau so arm an Schlaf wie die Nächte davor, und Michel knöttert heute wenn überhaupt möglich mehr denn je. (Der Gips wird jetzt wirklich eng, aber die Ärztin hatte uns vorgewarnt, dass das in den letzten Tagen passiert.) Aber ich bin jetzt zuhause in dem ganzen Chaos, dem Gebrüll und dem Schlafentzug. Ich weiß, dass das hier für jede schwierig wäre und vermutlich ganz normal ist, auch wenn viele so tun, als wäre ab Geburt die Welt in Pastell getaucht. Trotzdem ist es in meinem Leben bisher noch nicht da gewesen und toppt die Klassen sieben bis neun noch deutlich an Stress, Gehetztheit, gefühlter Ausweglosigkeit und Keiner-versteht-mich.

Toppte. Denn ich habe wirklich das Gefühl, es liegt hinter mir. Gerade mal 24 Stunden und dann noch ein bisschen, aber es ist trotzdem, als hätte mich jemand an den Tropf mit den guten Drogen gehängt.

Ich sitze im Lehnstuhl und schnuppere an Michels Kopf. Das macht man wohl so, und jetzt weiß ich auch, wieso. Er brüllt, und alles, was ich will, ist dass es ihm besser geht und ihm zeigen, dass das hier sein sicheres, warmes Zuhause ist. Nach einer Stunde habe ich Kopfschmerzen, aber die sind mir ziemlich egal. Ich schleiche vor dem Schlafengehen noch mal zu Kalle ins Zimmer und gucke ihm beim Schlafen zu. Wimperntusche hilft morgens gegen müde Augen, und Tee, endlich wieder voller Koffein, hilft gegen müden Schädel. Ich treffe meine vierundneunzigjährige Nachbarin auf der Straße, die zum vierundneunzigsten Mal zu mir sagt, das hier wäre die schönste Zeit und ginge viel zu schnell vorbei, und zwar denke ich immer noch ein bisschen grimmig "Na, das wollen wir doch mal schwer hoffen", aber ich weiß auch, was sie meint. Ihr Enkel schraubt jetzt seit einem Jahr an so einem grässlichen Armeefahrzeug herum und hat scheinbar das Sprechen verlernt, und vor kurzem, als sie Ende 70 war, gerade eben also hat er ihr noch Gänseblümchen im Garten gepflückt. Die Schlaflosigkeit, die Streits mit L., das mit einer Hand in den Mund geschaufelte kalte Essen und das ganze verwahrloste Leben verwandelt sich vermutlich in ein paar Monaten im Rückblick schon in Babyfolklore: Mutti erzählt vom Krieg. Wie schwer das alles wirklich war - dieser lang ersehnte Kindersegen, und ich weiß genau, wie blöd das für manche klingt und wie falsch der Hals ist, in den einige das kriegen - werde ich vielleicht vergessen, man sagt ja auch, Frauen vergessen Geburtsschmerzen. Aber das, was jetzt kommt und was ich endlich auch mitzukriegen scheine, das ganz bestimmt nicht.


5 Kommentare:

  1. Ich würde mich freuen, wenn Du es einfach nicht lassen würdest und weiter schreibst. Und man stelle sich vor, selbst als Abkürzungsdame im fünften Jahr bin ich in der Lage, mich von Herzen für Dich zu freuen und genauso mit Dir mitzufühlen, denn das das Leben mit zwei Kindern unter Zwei eine Riesenherausforderung ist, das ist mir selbst in den dunkelsten Warteschleifenmomenten klar. Ich drücke Dir ganz fest die Daumen, dass der "Hallo wach"-Zustand bleibt!!!
    Liebe Grüße

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  2. Liebe Flora,
    ich bin auch eine Langzeitabkürzungsdame und freue mich immer noch auf jeden Post von dir. Wir brauchen alle mehr Ehrlichkeit. Dieses "alles ist wunderbar" von manchem Müttern die dann nachts heimlich in ihr Kissen weinen, hilft ja niemandem. Die Kinderwunschzeit ist hart, zweifache Mutter sein ist auch hart. Ich möchte das wissen. Ich hoffe das du deinen Weg findest.
    Liebe Grüße
    Diana

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  3. Liebe Flora, hab deinen Blog leider erst so spät entdeckt. Diesen Eintrag finde ich mal wieder besonders großartig, ich erkenne mich in allen Punkten wieder -nach vier Jahren kiwu extrem bin ixh jetzt Mutter eines fünfnonatigen Jakob - ja, schöner Name - und würde manchmal meine Seele verkaufen für Schlaf, Zeit im Bad oder einfach nur Ruhe. Das ist alles viel härter, als ich gedacht hätte. Auch schöner. Aber eben auch härter. Es tut so gut, mit diesen Gefühlen nicht allein zu sein! Ich wünsche dir noch viele tolle, Kraft spendende Momente wie heute!
    LG
    Kirsten

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  4. Als ich mitten in der Neugeborenenkrise steckte war ich froh um jeden, der auch nur andeutete, dass dies eben NICHT die schönste Zeit des Lebens sei (der Spruch bringt mich heute noch auf die Palme. Weil er Druck aufbaut, alles was Scheiße ist toll zu finden, und weil er düstere Zukunfsaussichten malt: soll es danach etwa schlechter werden?). Es gibt tolle Momente im Neugeborenenland aber es gibt auch grausame Müdigkeit, totale Selbstvernachlässigung und extrem kurze Geduldsfäden. Zumindest war es bei mir so. Und bei mir wurde es nur langsam besser. Monateweise. Phasenweise. Mit guten und schlechten Tagen.
    Schreib bitte weiter, wie es dir geht, wenn dir danach ist. Für jede Meckerfrau gibts bestimmt eine, die heimlich wild nickt, müde zum Bettchen rüberschielt, ob sie auch nocht den Text zuende lesen darf, und sich eine Handvoll Chips in den Mund schaufelt, weil sie mal wieder nicht zum Kochen kam.

    Kerstin

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  5. Jetzt muss ich auch mal wieder schreiben. Auch wir haben lange versucht bis es geklappt hat, und waren kurz vor InVitro. Und wenn man mal jammert muss man sich ständig anhören "Denk dran, wie schlecht es dir ging, als man dir gesagt hat ihr werdet vielleicht nie Kinder bekommen bzw. haben können." JAAAAA, ICH WEISS. Ich bin jetzt wieder schwanger in Woche 16 und es geht mir schlecht, Übelkeit am Laufenden Bande, ich quäle mich durch jeden einzelnen Tag. NATÜRLICH bin ich ohne Ende glücklich, dass es wieder geklappt hat. NATÜRLICH vergesse ich nie, was das für eine Zeit war, aber es ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Leben mit Wunschkind, das gerade 1 geworden ist, und Dauerübekleit plus Vollzeitjobs und Kind das nachts dauernd aufwacht und außerdem dauerkrank ist schweinehart. Vorgeschichte hin oder her. Schreib unbedingt weiter Flora. Ich schaffe es sehr selten mitzulesen, aber wenn ich Zeit habe, dann freue ich mich immer, die ganzen letzten Posts "nachzulesen". :o) GlG aus Dänemark

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