Mittwoch, 30. Dezember 2015

Re: 24.-26.12.2015

Ich weiß, zu Weihnachten mögen wir Traditionen. Aber in diesem Blog hat sich eine Tradition eingeschlichen, die ich wirklich gerne wieder los wäre. Diese Tradition geht ungefähr so: erst herrscht Schweigen, wochenlang. Dann melde ich mich wieder und entschuldige mich erst mal umständlich, wieso hier so lange Schweigen geherrscht hat (als ob es ernsthaft jemanden jucken würde). Und dann gehe ich über zu einem Post, in dem alles mit allem verwurschtelt ist, denn zum ausführlich schreiben habe ich auch jetzt schon wieder keine Zeit. Ich fürchte, der einzige Weg aus diesem langweiligen Muster wäre, wieder alle paar Tage zu schreiben. Aus irgendwelchen Gründen kriege ich das aber nicht hin, und so bleibt es wohl noch eine Weile lang dabei (bis die Kinder imstande sind, sich selbst zu beschäftigen, anzuziehen und sich eine vernünftige Mahlzeit zuzubereiten?), dass ich hier alle paar Wochen angekrochen komme wie ein Schulkind, das beim Hausaufgabenschwänzen vergessen wurde. In meinem eigenen Blog! Erbärmlich, einfach nur erbärmlich.

Also los.

Weihnachten ist vorbei, und es tut mir leid, dass es dieses Jahr in diesem Blog nicht stattgefunden hat. Das lag wohl daran, dass es im wirklichen Leben so was von stattgefunden hat: wir hatten in der neuen Bude meine Eltern, meine Schwester mit Mann, meine Schwiegermutter und meinen Bruder zu Gast. Leider muss ich sagen, dass ich kein guter Weihnachtsmensch bin. Ich kriege jedes Jahr wieder ganz viel einfach nicht hin. Meine Deko-Bemühungen sind bestenfalls spärlich, schlimmstenfalls trashig. Ich schaffe vielleicht ein Drittel der Kekse, die ich eigentlich backen wollte. Die Geschenke kommen zum Glück von Amazon, Schande über mich, aber selbst dabei gerate ich noch ins Schwitzen. Jedes Jahr hält sich bis zur Bescherung hartnäckig das Gefühl, ich hätte jemanden vergessen. Ich schreibe keine Karten, und jede, die hier ankommt, treibt mir das Blut ins Gesicht. Ich wünschte, alle wären so schlampert wie ich mit Weihnachten, dann wäre es nicht schlimm. Oder es wäre mir einfach egal. Ist es mir aber nicht, im Gegenteil, auch durch 30 Jahre perfekte Weihnachten, von meiner Mutter scheinbar mit links organisiert, sind meine Erwartungen gewaltig. Schade nur, dass ich sie selbst erfüllen muss. "Was quengelt sie denn so", denken sich jetzt sicher viele. "Dann soll sie halt im Oktober eine Liste machen und ganz in Ruhe abarbeiten, und schon läuft es ohne Herzinfarkt oder Fusselhirnmeltdown". Damit habt ihr sicher Recht, der Tipp ist ein guter Tipp, wird mir aber trotzdem niemals etwas nützen. Ich weiß einfach, dass Weihnachten für mich immer so sein wird. Jetzt ist es vorbei, und ich bin froh darüber. Obwohl ich Weihnachten eigentlich mag! Versteh das einer. Wäre das ganze Jahr Weihnachten, dann wäre ich längst schizophren.

Weihnachten und Kinder, das war allerdings immer ein dickes Thema für mich, als ich noch keine hatte und es auch nicht so aussah, als würde ich mal welche bekommen. Darum schreibe ich heute mal darüber, wie es denn tatsächlich so ist. Dieses Jahr war das erste, in dem sowohl Michel als auch Kalle imstande sind, zu verstehen, dass hier gerade etwas Besonderes im Gange ist, und dass jetzt der Moment ist für große, staunende Kinderaugen. In Michels Fall allerdings auch immer für blitzschnell arbeitende Kinderbeinchen. Es ist nicht zu fassen, wie schnell dieses Kind krabbelt. Eben saß er noch staunend an meiner Seite, jetzt wieselt er schon pfeilschnell auf den Baum zu. Auch Kalle staunt zwar nach Kräften, aber sieht sich die Sache dann lieber genauer an. Mein erstes Zwei-Kinder-Weihnachten läuft also vor allem so, dass ich versuche, die Kinder nach Kräften von Weihnachten fern zu halten. Von den Kerzen, vom Baum, vom Adventskranz, von der Deko, von den hübschen Erzgebirgs-Figürchen, die am Baum hängen und die ein Hochzeitsgeschenk meiner Eltern waren, von denen also jede einzelne eine Bedeutung hat und noch bei meinen Urenkeln am Baum hängen soll, wenn da nicht irgend eine zukünftige Endometriose oder die dusselige islamistische Revolution dazwischenfunkt. Auch von den Keksen muss ich sie fernhalten, von diversen auf Tischchen verteilten Rotweingläsern, von den Handys der Weihnachtsgäste und von feinen neuen Strumpfhosen. Meistens haben sie nicht beide das gleiche Ziel vor den großen, staunenden Augen, darum wünsche ich mir vom 24. bis zum 26. eigentlich durchgängig, ich wäre ein Tintenfisch, auch wenn das die traditionelle Suche nach einer schönen, heilen und sauberen Strumpfhose noch weiter erschweren würde. Komischerweise ist das auch dann so, wenn man wie ich eine Verwandtschaft aus lauter Babysittern hat und alle ständig springen, um die Kinder von Gefahren und Versicherungsfällen fernzuhalten. Ja, zwischendurch ist es genau so, wie ich mir das immer vorgestellt habe: wenn Michel hingerissen an einem Traditionskeks knabbert und es schafft, sich mit dem staubtrockenen Ding trotzdem von Kopf bis Antirutschsocke einzuschmieren. Oder wenn Kalle seine neue Ikea-Kinderküche (Geschenk von Oma und Opa) in Betrieb nimmt und als erstes "Weihnachten" kocht. Aber ohne Kinder war wesentlich mehr Zeit, die Weihnachtsmomente zu bemerken, zu genießen und zu verdauen. Ich weiß auch nicht, was passieren müsste, damit ich mich wohlig aufs Sofa kuscheln würde, mit einer Tasse Weihnachtstee in der Hand, und deutlich fühlen und denken würde: das hier, das ist jetzt Weihnachten, wie schön. Hier ist das Haus voller Leute, die auf die Kinder aufpassen, und zwar gerne, das Essen ist größtenteils längst vorbereitet, alle reißen sich ums Tischdecken und Spülen und Hund ausführen - was denn noch? Vermutlich Downton-Abbey-artige Zustände. Wie gesagt: meine eigenen Weihnachtserwartungen werde ich wohl nie erfüllen, und so lange das so ist, wird für mich immer der Stress die alles übertönende Note sein. Dumme, dumme Flora.

Lerne ich denn gar nichts?

Doch, ab und zu schon. Dazu morgen.

Bis dahin wünsche ich Euch das, was ich Euch jedes Jahr wünsche. Solltet ihr es inzwischen bekommen haben, dann wünsche ich Euch ersatzweise dieses Jahr nachträglich einen klaren Kopf, blitzschnelle Reflexe, ein heiteres Gemüt, ein paar Plätzchenrezepte in petto, die sich innerhalb eines Kindermittagsschlafs umsetzen lassen und einen kippsicheren Weihnachtsbaumständer.

Ach ja: in meiner Familie wurde bei entsprechendem Anlass heiß diskutiert, ob Riesling tatsächlich ein gutes Fleckenmittel für Rotweinflecken ist. Ist er.


Montag, 7. Dezember 2015

Mein elektrischer Beckenboden

Man sollte es nicht denken, wenn man z.B. mein Verhalten vor Prüfungen beobachtet oder mich beim Kofferpacken, aber ich liebe, liebe, liebe es, einen Plan zu haben und mich dann daran zu halten. Neben Nerdigkeit und der Aussicht, dass es tatsächlich funktionieren könnte, ein weiterer dicker Pluspunkt für femifree. Seit ein paar Tagen sieht dieser Plan folgendermaßen aus:
Die Kinder sind entweder im Tiefschlaf oder in der Kita. Ich bin einigermaßen frisch geduscht, und es steht kein Besuch ins Haus und auch sonst keine Aktivität, bei der ich keine Jogginghose tragen darf. Ich habe darüberhinaus eine gute halbe Stunde nichts vor, was hektische Aktivität erfordert. leichte Aktivität dagegen, die vor allem nicht viel Gelaufe und Gehopse erfordert, ist völlig ok. Jetzt ziehe ich einen meiner drei Tangas an, nehme die zwei schwarzen, mit Klettverschlüssen ausgestatteten Manschetten und wickele sie mir um Po und Oberschenkel. Das sieht, wenn man es richtig macht (wozu ich die ersten Male noch ein-zwei Anläufe brauchte) aus wie die Beine einer Radlerhose. Sitzen die Manschetten, schließe ich jede mit einem idiotensicheren Klickstecker an ein Kabel an, und das Kabel kommt an das Therapiegerät, das ich mir wiederum um den Hals hänge. Ich steige noch in die Jogginghose, um nicht eine halbe Stunde lang mit Tangapopöchen durch die Wohnung zu laufen, in der Hose hat die ganze Apparatur locker Platz. Dann drücke ich auf den Startknopf, wähle eine Impulsstärke, die knapp unter derjenigen liegt, mit der ich letztes Mal das Programm beendet habe, und los gehts. Jetzt soll ich nach Möglichkeit ruhig stehen, mit schulterbreiten Füßen und leicht gekipptem Becken - was eine viel bequemere Haltung ist, als es erst mal klingt - und das Maschinchen trainiert für mich.

Und wie ist das, diese Stromstöße? Erst mal nicht unangenehm. Wäre es unangenehm, würde ich die Stärke runterfahren. Es fühlt sich auch überhaupt nicht an, als käme das, was da passiert, von außen - meine Oberschenkel und der Beckenboden spannen sich an, ohne dass ich etwas dazu tun muss, und es britzelt ein bisschen, aber wer vielleicht mit Schrecken an den letzten Kontakt mit einem elektrischen Zaun oder dergleichen denkt, muss vor femifree keine Angst haben. Und wer trotzdem Angst hat, kann ja ganz langsam anfangen, bis er sich an das lustige Gefühl gewöhnt hat. (So habe ich es ehrlich gesagt auch gemacht und war binnen drei Sitzungen bei einer Stärke von fast 70 - so weit soll man eigentlich in den ersten ein bis zwei Wochen kommen.) Während der Sitzung kann man schon mal das Gefühl bekommen, da geht noch mehr - dann fährt man die Stärke einfach hoch.
Alle paar Sekunden fährt der Impuls durch die Muskeln, das dauert so ungefähr drei Sekunden, und danach sind wieder fünf Sekunden Ruhe. Während der Impulse soll man möglichst nicht herumlaufen, brauche ich also etwas vom anderen Ende des Raumes oder suche mein Telefon oder was auch immer, dann gehe ich entweder in den Sekunden zwischen den Impulsen jeweils ein paar Meter, oder, falls mir das zu affig ist, drücke ich auf Pause, ich tue was zu tun ist, drücke noch mal auf den Knopf, und es geht weiter. Ich finde aber, die halbe Stunde kriegt man ganz gut organisiert, ohne Pausen zu brauchen. Ich schreibe dabei z.B. (wie jetzt, brzzzz brzzzz), oder ich rühre ein Risotto, oder ich stelle mich vor die Glotze, oder ich bügele, oder was auch immer. Man soll dabei übrigens auch liegen können, habe ich aber noch nicht ausprobiert. Ist die halbe Stunde vorbei, hört das Gerät von alleine auf und piept kurz. Dann ziehe ich die Manschetten wieder aus, entstöpsele die Kabel und lege das ganze Päckchen beiseite. Man könnte alles in einem großen Schuhkarton verstauen. Oder in einer Schublade. Oder wie auch immer.
Und jetzt? Ob es wirklich funktioniert (hat), werde ich in 12 Wochen wissen, so viel Zeit braucht es wohl. Aber ich habe jetzt schon das Gefühl, es ist viel passiert. Ich will nicht ZU optimistisch sein, das war ich gerade bei diesem Thema jetzt schon ein paar Mal, aber… aber…

Bisher läuft es wirklich gut! Und obwohl das Programm vorsieht, dass man zwei Tage pro Woche pausieren kann, sehe ich absolut keinen Grund, das zu tun.

Hier der Verlauf bisher: die Zahlen sind die höchsten Impulsstärken pro Sitzung. Die speichert das femifree übrigens wohl auch, genau wie eine Menge anderer Daten, aber bisher brauche ich das noch nicht, ich kann mir das auch so ganz gut merken.
Erster Tag: 54.
Zweiter Tag: 57.
Dritter Tag: 62.
Vierter Tag: 66.
Fünfter Tag: 70.
Sechster Tag: 74.

Brzzz-Brzzz. Gibt es hier eigentlich sonst noch eine, die das mal probiert hat? Und die was dazu erzählen kann?

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Wo war ich stehen geblieben?

Und dann war da noch der Umzug. Und ich schäme mich ein bisschen vor unserem alten Haus. Dieses klamme Gefühl, von dem hier schon öfter mal die Rede war, das Heimweh, mit dem ich fest gerechnet hatte, das ich aber bereit war in Kauf zu nehmen und irgendwie halt verdammt noch mal auszuhalten - nichts davon. Einfach nichts. Kein Tränchen in der letzten Nacht im alten Haus, kein tiefer Seufzer, kein wehmütiges Streichen über das hunderttausend mal angefasste Treppengeländer, kein Abschiedsschmerz für Türklinken, Spülmaschine, Vorratskammer, knarrende Treppenstufen, noch nicht mal für den Wintergarten. Stattdessen derbe Flüche darüber, dass die Aufräumarbeiten in der alten Hütte auch drei Wochen nach dem Umzug noch nicht endgültig erledigt sind. "Wie oft sollen wir denn da jetzt noch hinfahren?" keife ich L. an, und dann schäme ich mich ein bisschen. Echt, ich sollte mich mal reden hören. Es ist fast so, als hätte ich nach zehn Jahren eine Beziehung beendet, und abends reiße ich eine Flasche mit meinen Freundinnen auf, stoße auf die Freiheit an und denke nie wieder an den Kerl. Bin ich denn so oberflächlich? Das Haus war doch kein Liebesfehlgriff! Wir hatten es da doch gut! Wie viele Stunden, Tage, Monate, Jahre wir damit zugebracht haben, dort Teppichreste von Treppenstufen zu kratzen, Farben und Lampen und Lichtschalter auszusuchen, wie oft ich dort am Fenster stand und in die Bäume geguckt habe, wie lieb mir die alte Eiche im Nachbargarten war und die Erdbeerstelle und der Park gegenüber und all das - und jetzt soll das alles schon schnurz sein? Scheinbar ja.

Vielleicht kann ich kurz ein bisschen davon erzählen, wie es jetzt hier ist, und dann kommt es mir schon nicht mehr ganz so seltsam vor. Ich sitze hier im Bett mit meinem Rechner und gucke auf einen Kanal. Es ist ein sehr hübscher Kanal. Neben mir auf dem Nachttisch steht eine Flasche Augustiner Edelstoff - ein ziemlich leckeres und nicht sehr häufiges Bier, dass es aber bis Mitternacht im Kiosk zu kaufen gibt, zu dem ich keine zwei Minuten brauche, wenn die Ampel rot ist, und kaum dreißig Sekunden, wenn sie grün ist. Fahre ich zur Arbeit (was ich neuerdings wieder tue), dann könnte ich das mit dem Fahrrad tun, ich habe aber noch kein Schloss, deshalb fahre ich Bahn. Ich fahre drei Stationen. Es lohnt sich kaum, die Zeitung aus der Tasche zu ziehen. Am ersten Abend nach dem Umzug waren die Mädchen hier, und ich war so glücklich über meine Wohnung, dass ich kaum davon abzuhalten war, mit Flüppchen in der Hand den Passanten huldvoll zuzuwinken wie die Queen. Genau genommen war ich gar nicht davon abzuhalten. Inzwischen war auch schon wieder ein Mädchenabend bei einer der anderen, ich bin mit dem Taxi nach Hause gefahren und habe 6,50 bezahlt. 6,50! Das ist ungefähr ein Fünftel von dem, was ich sonst bezahlt habe. Lese ich jetzt ein Kochbuch und stoße auf ein Rezept wie z.B. gegrillte Lammrippchen, Rotbarbe, Ochsenschwanzragout oder irgendwas mit Pfahlmuscheln, dann seufze ich nicht wie früher und klebe da ein Wir-tun-mal-so-als-ob-das-jemals-was-würde-Post-it rein, sondern ich schreibe einen Einkaufszettel und gehe Ochsenschwanz kaufen. Überhaupt ist Einkaufen gehen hier schön, und einfach nur so rausgehen, ohne Butter oder Ochsenschwanz besorgen zu müssen, ist auch schön. Man kann hier nämlich z.B. eine Zeitung kaufen und einen Kaffee trinken. Oder man kann in eine Buchhandlung gehen, in der es tatsächlich Bücher zu kaufen gibt. Oder man kann ein paar Meter weiter gehen und auf dem kleinen Weihnachtsmarkt eine Schale leckere Biopommes essen. Die Leute hier sind nett. Teilweise haben sie einen schnöseligen Ruf, aber bisher tut dieser Ruf ihnen Unrecht. Ich stand hier schon an der Kasse hinter zwei männlichen Teenies an, die der Kassiererin "ein schönes Wochenende und einen schönen ersten Advent" gewünscht haben. Allen Ernstes, die sind nicht kichernd rausgerannt. Ich stand mit offenem Mund da. Die Kästen neben den Leergutautomaten, in die man seine Bons für gute Zwecke stecken kann, quellen über. Man lässt sich gegenseitig vor, lächelt sich an auch ohne Abschleppabsicht, man kotzt sich nicht gegenseitig auf die Schuhe - echt wahr! Und L. und ich bummeln und gehen mit dem Tier spazieren und haken uns ein und lassen die Leute vor und freuen uns einfach nur fast den ganzen Tag, hier zu sein. Bisher fühlt es sich noch an wie Urlaub. Ok, einen kleinen Streit um einen Parkplatz hatte L., und das Kindermädchen hat mich gewarnt, dass wir demnächst vielleicht Ärger wegen des Doppelkinderwagens im Keller kriegen könnten, aber noch ist es Urlaub.

Und das Röntgenzentrum für das MRT ist auch direkt um die Ecke! Jetzt weiß ich nämlich endlich, was mit der Misthüfte los ist. Nach... Moment... sieben Arztbesuchen, acht mal Physio, zwei mal Osteopathie und viel zu vielen Schmerztabletten weiß ich jetzt, dass ich einfach nur einen dämlichen Bandscheibenvorfall habe und infolgedessen einen dick entzündeten Nerv, der jetzt für die wehe Hüfte sorgt, außerdem für ein wehes Bein und einen wehen Fuß. Nun bekomme ich Krankengymnastik, sobald ich dazu Zeit habe, noch wichtiger sind aber scheinbar Kortisonspritzen, die die Entzündung bekämpfen (und leider für eine uffjedunsene rote Säuferbirne sorgen) und trage ein megahottes Rückenstützkorsett, eine Art extrabreiten Motorradgürtel. (Heute gab es eine halbe Stunde, als ich gleichzeitig das Rückenkorsett, den Stützstrumpf und das Femifree getragen habe, da fühlte ich mich kurz wie Robocop.) Und die Chancen sind nicht schlecht, dass die Bandscheibe einfach von alleine wieder an Ort und Stelle flutscht.

Und jetzt sind fast alle Kiste ausgepackt bis auf die, bei denen wir nur noch darauf warten, ob L. oder ich zuerst sage, dass wir den Kram doch im Grunde nicht mehr brauchen. Und das WLAN läuft nach anfänglichen Schwierigkeiten auch. Und ich habe keine Probleme mehr, innerhalb von einer Minute mein Rechnerkabel zu finden. Und ich falle auch abends nicht mehr total erledigt von den letzten 12 Stunden Schmerzen in der Hüfte tot ins Bett. Und bei den Kindern hat sich die Aufregung über den Umzug gelegt, so dass wir die Abende wirklich für uns haben. Und es kehrt so etwas wie Normalität ein. So dass ich hoffe - versprechen will ich nicht zu viel - dass hier nun nicht wieder acht Jahre Funkstille herrschen. Ich bin noch da! Nur jetzt woanders. (Und nein, ich schreibe nicht wieder heimlich einen zweiten Blog, in dem steht, dass ich schwanger bin.) (Bin ich nicht!) (Mann! Ehrlich nicht! MRTs! Kortisonspritzen! Schmerztabletten! Augustiner Edelstoff! Fluppen! Ehrlich.)

Das Pipiproblem, siebenhundertzweiundachtzigste und hoffentlich fast letzte Folge

Ich muss mich kurz konzentrieren, um noch zusammenzubringen, was ich bisher an Geschützen gegen das Pipiproblem aufgefahren habe.
Da war zunächst mal eine Freestyle-Phase kurz nach Kalles Geburt, als ich noch dachte, das Problem verschwindet von alleine, so wie der Dammschnitt irgendwann nicht mehr zwickt. Die Freestyle-Phase sah so aus, dass ich Kegelübungen für den Beckenboden gegoogelt und dann so gut wie täglich auch gemacht habe. Ehrlich! Nur, dass das wirklich überhaupt nichts genützt hat.

Daraufhin habe ich mich im Blog beschwert und habe den Tipp mit Cantienica bekommen. Und obwohl ich sonst ziemlich Tipp-Resistent bin, habe ich mich zu einem achtwöchigen, stinketeuren Beckenboden-Spezial-Kurs angemeldet. Einmal wöchentlich habe ich Mann und Baby allein gelassen und bin nach Eimsbüttel gefahren. Das war nett! Nette Kursleiterin, nette Teilnehmerinnen, und es war schön, mal rauszukommen, und wenn es nur für zwei Stunden war. Zwischenzeitlich dachte ich auch mal, jetzt passiert was. Bis ich dann das nächste Mal wieder auf ein matschiges Blatt getreten oder über den Bordstein gestolpert bin und direkt wieder nach Hause gehen konnte, um zu duschen und mich umzuziehen.

Dann war ich auch schon wieder schwanger. Komischerweise war mir das Problem in der Schwangerschaft entweder egaler, oder ich hatte meine Blase wieder mehr unter Kontrolle, oder ich habe mich einfach vorsichtiger bewegt und instinktiv einen großen Bogen um Glatteis, Bordsteine und Salatblätter gemacht - wer weiß. Vielleicht war es auch genau so schlimm, und ich habe es vergessen. Oder das Pipiproblem trat angesichts von Kreislaufproblemen, Klumpfußdiagnose usw. einfach in den Hintergrund. Jedenfalls: ich war schwanger, Sport habe ich keinen getrieben, dann kam Michel, und mit Michel war auch das Pipiproblem wieder da.

Dann habe ich meiner Frauenärztin (nicht zum ersten Mal) besonders eindringlich davon erzählt, und sie hat mir Physio verschrieben. Die Physio war eine der nutzlosesten Erfahrungen meines Lebens. Die Übungen waren eher noch unwirksamer als mein zusammengegoogeltes Freestyle-Anspannen, die Physiotante nervte wie Hulle, meine Blase tanzte mir weiterhin auf der Nase herum.

Dann die Elanee-Gewichte. Vier Stück, von leicht nach ganz schön schwer, die ich zweimal täglich für zehn Minuten beim Stehen und Gehen tragen sollte. Es tat sich offensichtlich etwas: während ich am Anfang das leichteste Gewicht gerade mal dreißig Sekunden halten konnte, war ich nach ein paar zähen Monaten imstande, das schwerste Gewicht zu tragen und so lange zu vergessen, bis mir irgendwann auffiel, dass ich es jetzt seit fast einer Stunde herumtrug. Da musste sich also etwas getan haben. Hurra! Schade nur, dass das Pipiproblem ziemlich unbeeindruckt blieb von der neugewonnenen Muskelkraft. Ich hatte jetzt zwar seltener damit zu tun, dass auch ohne jeden Anlass einfach mal die Hose nass war - nur so zum Spaß, während ich mit hochrotem Kopf die Straße entlanglief und den Optimismus verfluchte, mit dem ich heute morgen die Pipibinde weggelassen hatte. Aber das Salatblattproblem bestand immer noch, genau wie das Hust-, Nies-, Lach-, Erschreck- oder Tanzproblem.

Und bei all dem kam das große Ziel immer noch keinen Zentimeter näher, endlich wieder die Laufschuhe anzuziehen und um den Park zu rennen.

Aber jetzt! Vor ein paar Monaten blätterte ich in einer alten Brigitte Mom, und da stand etwas von femifree: einem Gerät zur elektrischen Beckenbodenstimulation, mit dem die Muskeln gestärkt und die Wahrnehmung für die “richtige” Anspannung geschult werden sollte. Das klang ziemlich gut für mich, nicht zuletzt deshalb, weil ich als Nerd natürlich Feuer und Flamme bin für die Aussicht auf Gelpads, Elektrogebrizzel und piepende Geräte. Hätte in der Brigitte Mom etwas über ein Beckenbodentraining via Schwerelosigkeit oder Laserschwert gestanden, meine Hand wäre oben gewesen. Innerhalb von zwei Minuten war ich auf der femifree-Seite, guckte mir das Demo-Video an und zuckte automatisch nach dem Kaufen-Button. Da klingelte es an der Tür, die Nachbarin stand draußen, und irgendwie kam ich aus dem Konzept und dachte erst ein paar Stunden später wieder an das Wunderding. Zum Glück, denn in diesem Moment hatte ich die Idee: was, wenn ich das Gerät im Blog teste? Kreisch!!!!! Vorteile, wohin man schaut:
* Ein Testgerät, das mich zauberhafterweise überhaupt nichts kostet
* Eine 1a Gelegenheit, endlich mal wieder seitenweise herumzunerden
* Die eingebaute Garantie, dass ich das durchziehe - die Bloggerehre steht auf dem Spiel, da wird nicht geschwänzt, egal, warum
* Ein Testgerät, das mich zauberhafterweise überhaupt nichts kostet
* Falls es funktioniert, wovon ich erst mal fest ausgehe, tue ich auch noch ein gutes Werk, indem ich den ebenfalls unterhosenmäßig herausgeforderten Ex-Abkürzungsdamen von diesem Weg heraus aus der Tena-Zielgruppe erzähle
* Ein Testgerät, das mich zauberhafterweise überhaupt nichts kostet.

Und so kam das, dass ich erst an die Infoadresse mailte, fast sofort eine sehr nette Antwort bekam von einer Dame, die versprach, das an die Geschäftsführung weiterzugeben, und ein bisschen später kam tatsächlich noch eine Email, und so ging das weiter: femifree erzählte von femifree, ich erzählte vom Blog, und ziemlich schnell waren wir uns einig, dass die beiden gut zusammen passen würden. Ich sollte also wirklich ein Testgerät bekommen und das wohlwollend, aber trotzdem ehrlich und kritisch prüfen und darüber berichten. Dann ging das Paket auf die Reise zu mir. Und ich war nerdmäßig ungefähr so hochgestimmt wie zuletzt, als ich damals auf meine neue wii gewartet habe. Leider gab es dann noch eine kurze Verzögerung, denn das Paket kam mitten im Umzug an, und so gern ich auch sofort den Akku aufgeladen und losgelegt hätte, es ging einfach nicht, ganz davon zu schweigen, dass die einzelnen Teile des Geräts vermutlich erstmal auf Soschnellnichtwiedersehen in den achttausend Kartons verschwunden wären. Also habe ich mich zusammengerissen, den Karton erst mal nicht aufgemacht und gewartet. Und Möbel geschleppt. Und gewartet. Und Kisten ausgepackt. Und gewartet. Und Berge von Kram in “brauchen wir irgendwann mal wieder”, “ist absolut lebenswichtig” und “welcher Idiot hat das angeschafft?” sortiert. Und gewartet. Warten ist nicht meine starke Seite, aber gewartet habe ich.
Bis gestern! Gestern habe ich zum ersten Mal den Beckenboden nach der Dr.Snuggles-Methode traininert. Und was soll ich sagen: das lief nicht schlecht. Überhaupt nicht schlecht! Und davon, liebe Abkürzungsdamen und Ex-Abkürzungsdamen, berichte ich morgen.

Schnall Dich an, Pipiproblem: jetzt werden hier andere Saiten aufgezogen.




Mittwoch, 4. November 2015

Noch geht tippen schneller als laufen. Aber demnächst!

Der erste Geburtstag, den wir hier gefeiert haben, war L.s vierzigster. Auf einmal hatten wir ein Haus. Auf einmal hatte L. Geburtstag. Und auf einmal hatte L. ziemlich viele Leute eingeladen, die auch noch alle kommen wollten. Die Küche ist winzig, aber irgendwie haben wir es geschafft, 30 Leute zu bewirten. Morgen feiern wir hier den letzten Geburtstag: Michel wird ein Jahr alt. Wie immer bei Umzügen ging es mir auch diesmal: erst wurde mir klamm bei dem Gedanken. Dann ist dieses Klamme langsam verflogen, und ich habe mich behaglich eingerichtet im Verabschieden. Und dann ging es irgendwann los, und auf einmal konnte ich noch nicht mal mehr sagen, wann hier der letzte Tag war, an dem noch alles normal und in Ordnung war. Jetzt ist hier nichts mehr normal und in Ordnung, die meisten Regale sind halb leer, die Hälfte der Stühle ist weg, fast alle meine Kleider (was nicht so schlimm ist, denn ich trage sowieso 10% meiner Kleider fast jeden Tag und den Rest theoretisch irgendwann demnächst bestimmt), und hätte ich mich nicht aufgeführt wie eine Furie, dann hätte ich auch keine Backform mehr gehabt für Michels Geburtstagskuchen. Jetzt ist das hier wirklich vorbei. Und ich bin sehr traurig und freue mich trotzdem auf das, was als Nächstes kommt. Ich hoffe, ich kann bald mehr dazu schreiben, aber gerade tippe ich hier gegen die Uhr an, denn aufgrund von Verwicklungen, die zu erläutern ich keine Zeit habe gerade, hüstel-hüstel, dreht die Telekom uns das W-Lan irgendwann heute ab. Ja, ich habe genau so gestaunt! Jedenfalls wissen wir noch nicht, wann in der neuen Butze Internet ist, und hier kann es jede Sekunde vorbei damit sein.

Also wieder mal ein Telegramm von mir.
Erstens: die Jungs.
Michel ist seit Montag in der Kita-Eingewöhnung. Für alle noch-nicht-Eltern: Kinder kommen nicht ZACK plötzlich für ein paar Stunden in die Kita, sondern sie werden langsam daran gewöhnt. Am ersten Tag eine Dreiviertelstunde, am zweiten, dritten und vierten Tag auch, und Mama oder Papa sitzen dabei. Dann steigert sich das, bis sie irgendwann so weit sind und die Dinge ihren Lauf nehmen können. Michel macht das toll, viel besser als erwartet. Er krabbelt neugierig los, strahlt die Kinder an und die Spielsachen, würdigt mich keines Blickes und ist sensationell gut gelaunt. Kalle dagegen hat scheinbar ernsthafte Revierverteidigungsprobleme. Wird das? Bestimmt. Hoffe ich jedenfalls und knirsche mit den Zähnen.

Zweitens: der Job.
Ganz ehrlich: ich habe gerade keine Ahnung, wie es weitergehen soll. "Nutze das als Chance! Besinne Dich neu! Du kannst alles machen, was Du willst!" Genau. Ich habe die Hosen gestrichen voll.

Drittens: Mamas Gesundheit.
Ist vielleicht eine kleine Erklärung dafür, warum der Unternehmergeist gerade nicht so richtig in Fahrt kommt. Seit Juni habe ich jetzt diese Schmerzen in der Hüfte. Morgens beim und nach dem Aufstehen ist es am schlimmsten, aber Nachts ist es ein knapper zweiter Platz, und ich kann inzwischen kaum mehr eine Nacht ohne Schmerztablette schlafen. Inzwischen bin ich geröntgt, morgen erfahre ich, was es auf diesen Bildern zu sehen gibt und was das bedeutet. Mittlerweile bin ich fast so weit, dass mir egal ist, was es ist, Hauptsache, ich kenne endlich seinen Namen. Meine Geduld, noch nie meine starke Seite, ist vollkommen erschöpft. Und nicht nur das, inzwischen führen die Schmerzen auch zu einer massiven Fehlhaltung. Innerhalb kürzester Zeit habe ich mir jetzt alle Schuhe schiefgetreten, und aus ursprünglich nur Hüftschmerzen sind inzwischen auch Knie- und Fußschmerzen geworden. Sapristi! Ich finde wirklich, für Zipperlein bin ich noch zu jung.
Ach ja, und die Blutungen: gerade habe ich zum dritten Mal in dreieinhalb Wochen meine Tage. Aber laut gründlichem Ultraschall ist alles gut. Es gibt ein kleines Myom, aber das ist für mich myommäßig ein Superschnitt, und es kann laut Frauenärztin auch nicht für so viel Blut sorgen. Sie vermutet seelische Ursachen. "Seelische Ursachen!" Ich finde sie nett, darum bin ich ihr nicht direkt ins Gesicht gesprungen, wie ich das sonst in diesem Fall immer tue. Nun habe ich nicht nur Zorn auf meine Hüfte, mein Knie und meinen Fuß, sondern auch auf meine Seele. Es wird ein bisschen einsam hier.

Viertens: der Plan.
Ich habe das noch nie getan: den Blog gemolken. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Ok, ich habe ein Buch daraus gemacht, und ab und zu habe ich euch angehauen, ob vielleicht eine Lust hat, ein Interview zu geben, aber davon abgesehen davon - nichts. Jetzt habe ich wieder mal in Sachen Pipiproblem gegoogelt und gegoogelt und bin auf eine Option gestoßen, die zwar vielversprechend klang, die ich mir aber gerade vom Elterngeld nicht leisten kann. Also habe ich den Hersteller dieser Option angeschrieben und ihm von mir und meinem Blog erzählt. Bin ich rot geworden, während ich die Email geschrieben habe? Ich fürchte ja. Aber es hat sich gelohnt, denn jetzt darf ich sein Gerät testen und darüber berichten. Heute macht sich irgendwo im tiefsten Baden-Württemberg ein Päckchen auf den Weg, und ich glaube fest daran, dass es mich ein gutes Stück näher an meine heiß ersehnte erste Runde um den Park bringt.

Freitag, 16. Oktober 2015

Der Lack ist ab.

Da hätten wir erstens das Pipiproblem. Ich will nicht schon wieder ausholen, aber es ist immer noch da. Immer dann, wenn ich nicht dran denke und es eilig habe, immer dann, wenn mich ein Nieser oder Huster ohne Vorwarnung erwischt, immer dann, wenn ich auf einem nassen Blatt ausrutsche oder umknicke, und am liebsten dann, wenn alle Hosen außer dieser gerade in der Waschmaschine kreisen oder wenn ich auf dem Weg irgendwohin bin, wo ich eine nasse Hose nicht gebrauchen kann (und seien wir ehrlich, wo kann man die gebrauchen?)

Dann die Krampfader. Ich hatte die OP, die blauen Flecke sind so gut wie verschwunden, zur großen Enttäuschung von Kalle, der immer noch täglich darum bittet, sie sehen zu dürfen. Die Schnittstellen sind immer noch dunkellila, aber auch das wird verschwinden. Was aber geblieben ist, ist ein dumpfiger Schmerz in der Wade, und genau seinetwegen habe ich die OP überhaupt machen lassen. Kann also gut sein, dass der Arzt da noch mal ran muss. Vielleicht hat das aber auch mit der Krampfader gar nichts zu tun, sondern liegt an... tadaaa...

Der Hüfte. Ich weiß noch nicht mal genau, ob das anatomisch korrekt die Hüfte ist. Aber sie tut weh, so weh, dass ich manchmal laut aufheule, wenn ich morgens aus dem Bett steige oder nachts um fünf, um eine Flasche zu machen für Michel. Nachts und morgens ist es am schlimmsten. Heute nacht dachte ich schon, ich hätte einen Kniff gefunden: mit einem dicken Kissen zwischen den Knien schien es etwas besser zu gehen. Aber am Morgen wurde klar, dass ich dafür dann beim Aufstehen den doppelten und dreifachen Preis bezahlen muss. Der Orthopäde hat gesagt, ich soll ruhig Ibuprofen nehmen (und der Venenarzt hat sowieso gesagt, das soll ich rund um die Uhr nehmen, dann verschwinden die Hämatome schneller), aber davon wird mir langsam gelinde gesagt schlecht. Nächsten Donnerstag habe ich einen Röntgentermin. Mit dem Röntgenbild gehe ich dann wieder zum Orthopäden. Sollte der (was er schon angedeutet hat) daraufhin ein MRT oder sowas wollen, dann werde ich ihn bitten, sofort zum Hörer zu greifen und mir innerhalb der nächsten Stunden eins zu besorgen, denn ich will keine weiteren Wochen darauf warten, das geht hier nicht mehr lange gut. Er vermutet aber "etwas Rheumatisches, vielleicht auch einen Lupus." Womit wir schon wieder beim nächsten Punkt wären:

Der Magen. Ich weiß nicht, was da los ist. Ich bin nur froh, dass ich gerade erst eine Darmspiegelung hatte, wenigstens da bin ich sauber. Denn irgendwas ist faul. Vielleicht ja wirklich nur Ibuprofen. Aber ich habe so gut wie keinen Appetit auf gar nichts mehr. Ich hatte mich schon gefreut, nach der Geburt ziemlich fix wieder dünn zu sein, genauer gesagt, jetzt neuerdings dünn, denn dünn war ich genaugenommen vorher seit zehn Jahren nicht gewesen. Jetzt bin ich zwar dünn, aber auch wieder nicht glücklich (q.e.d.). Ich stehe im Supermarkt und bin völlig ratlos, was ich essen und kaufen will. Der vegetarische September war auch deshalb ein Erfolg, weil ich einfach auf nichts Bock hatte, weder auf Rippchen noch auf Steaks oder Hähnchenflügel. Es ist auch auf keinen Fall ein Überdruss am üblichen fettigen Essen, von dem ja gerade so viele Leute erzählen, die einen in Bahnen lenken wollen, an deren Ende Quinoa und Paleo und was weiß ich stehen. Ich habe genau so wenig Lust auf vietnamesische Brühen mit Zitronengras und Chili wie auf Schweinebraten. Das war noch nie, so weit ich mich erinnere, und es gefällt mir nicht.

Und dann ist da noch der Husten. Den hat mir meine Osteopathin verpasst, die hatte mich vorgewarnt, erkältet zu sein. Erkältet war ich selbst gerade, deshalb habe ich mit der mir eigenen Arroganz in Gesundheitsdingen gesagt, das kann ich ab. Jetzt huste ich, und jeder Huster fährt mir wie ein Messer durch die Hüfte (davon, dass nach manchen die Hose nass ist, wollen wir gar nicht sprechen). Wenn es eins gibt, was noch ätzender ist als Reizhusten, dann ein Reizhusten, dem man nicht nachgeben darf.

Und dann habe ich auch noch gerade meine Tage. Was nicht weiter der Rede wert wäre, wenn nicht... Moment... fing nicht der allererste Post dieses Blogs, damals, 2009, genau so an? Egal. Wenn ich sie nicht vor zwei Wochen schon gehabt hätte. Das kann nicht gut sein. Entweder, die Myome sind wieder da, oder was weiß ich. Nächste Woche habe ich zum Glück auch einen Termin bei meiner Frauenärztin, dann sehen wir weiter, was für neue Gesundheitsabenteuer auf mich warten oder vielleicht auch nicht.

Öchö, Öchö. Hust, Hust. Blut, Blut. Stöhn, Stöhn. Humpel, Humpel. Ächz, Ächz. Das ist doch kein Leben für ein... äh... 42jähriges junges Mädchen!



Samstag, 10. Oktober 2015

Sieh es ein: wir haben eine Neue.

Vor ziemlich vielen Jahren hatte ich mal das deutliche Gefühl, mein damaliger Liebster wollte mit mir Schluss machen. Die Zeichen waren nicht so schwer zu deuten: er meldete sich überhaupt nicht mehr, hatte unter der Woche schrecklich viel im Job und am Wochenende mit unzähligen Umzügen, Familienfeiern usw. zu tun, bei denen ich auch gar nicht gefragt war, leider leider, und wenn er irrtümlich doch mal ans Telefon ging, war er so dermaßen drüber ("HEY!!!!! Wie SCHÖN, dich zu hören! GERADE wollte ich dich anrufen!!!!!!"), dass eigentlich alles klar war. Die Frage war nicht, was mit ihm los war, sondern was ich damit machen sollte. Jeder vernünftige Mensch würde sagen: gerade machen, durchatmen und selbst Schluss machen, wenn diese Wurst dazu nicht imstande ist. Aber ich habe nie behauptet, ein vernünftiger Mensch zu sein, und darum habe ich natürlich einen erbärmlichen Versuch gestartet, ihm zu beweisen, was für ein Fang ich im Grunde genommen bin. Nicht zu offensichtlich (HARR, dachte ich) und auch nicht rangeschmissen (NEIN! Klar. Nein! Auf keinen Fall! Nee Nee!), sondern eher so beiläufig, souverän und lässig. Es hat selbstverständlich nicht funktioniert, aber das tut heute zum Glück nichts mehr zur Sache, denn inzwischen ist nicht nur der Exfreund, sondern auch der Liebeskummer seinetwegen seit vielen, vielen Jahren Geschichte. Trotzdem muss ich in den letzten Tagen öfter mal daran denken, denn mir kommt es so vor, als würde unser Haus gerade das gleiche versuchen. Es merkt was. Es ist sich sogar ziemlich sicher. Aber statt sich damit abzufinden, dass wir demnächst gehen, fährt es noch mal das volle Programm auf. Die goldene Herbstsonne funkelt über dem Garten, die Rosen blühen zum Teil immer noch, das Licht fällt auf genau die richtige Weise so durch die Fenster, dass es wirkt wie schönste Hollywood-Magie, die Leute auf dem Markt und in der Nachbarschaft sind nett wie nie, einen Kitaplatz für Michel haben wir demnächst auch, und vor ein paar Tagen stand unsere nette 93jährige Nachbarin am Gartenzaun und schwärmte davon, was für ein Glück das für sie wäre, unsere zwei Jungs jetzt mit aufwachsen und den Garten erkunden zu sehen, das wäre so ein Geschenk! Ich schluckte. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es bildet sich weniger Staub in den Ecken, die Räume sind von ganz alleine ideal temperiert, und auch die Fenster wirken plötzlich wie frisch geputzt, wenn sie in Wahrheit genau das Gegenteil sind. Erbärmlich. Es ist einfach nur erbärmlich.

Es ist nämlich so: die Zeit hier geht zu Ende. Wir haben einen Mietvertrag unterschrieben für eine große, schöne Wohnung mitten im städtischen Gewühle, so wie wir es schon so lange wollten. Und während wir bisher immer dachten, wir würden versuchen, eine Wohnung zu kaufen, die dann noch monatelang hergerichtet werden müsste, so dass es auf jeden Fall Frühjahr wird, bevor wir umziehen, geht es jetzt ziemlich schnell. Genauer gesagt, äh, Moment, Mitte November. Also der Monat, der auf diesen hier folgt. Demnächst. Und alle Herbstsonnen, aller Feenstaub in Sonnenstrahlen auf Holzböden und alle Nachbarn der Welt werden daran nichts mehr ändern. Ich weiß, dass das gut für uns ist. L. und ich führen uns jetzt schon auf, als würden wir demnächst unseren zweiten Honeymoon antreten. Und den Kindern habe ich schon davon erzählt, und Kalle freut sich. (Nein, ich bin nicht bescheuert, mir ist schon klar, dass Kalle schon noch das eine oder andere Tränchen deshalb verdrücken wird. Ich übrigens auch.) Zwar werden wir keinen Garten mehr haben, aber in unmittelbarer Nähe mehrere schöne Parks mit Spielplätzen. Die Jungs kriegen endlich zwei Kinderzimmer statt einem Miniraum, der mit Wickelkommode, Kleiderregal und zwei Babybetten knackevoll ist. Dieses Haus hier wird dann wohl noch ein paar Wochen leer, still und einsam hier herumstehen. Aber dann kommt jemand Neues, und der wird hier seine ganz eigenen Abenteuer erleben, wobei seine Abenteuer deutlich weniger mit Handwerkern zu tun haben werden als unsere, und wenn im Mai der Flieder an der Gartenhütte blüht, wird hoffentlich wieder jemand hier sein, der ein paar Zweige abschneidet und auf den Esstisch stellt.

Nu hör aber auf, Flora.

Freitag, 9. Oktober 2015

Schon wieder dieser Pipikram

Vor ein paar Tagen hatte ich einen Arzttermin bei einem Orthopäden. Der Orthopäde ist ein alter Sportkumpel von L., und L. war es gründlich leid, seine Frau ständig krumm wie ein Fragezeichen, ächzend und fauchend durch die Welt humpeln zu sehen. Es war zwar nicht so, dass ich nichts in Sachen Hüfte unternommen hatte: ich war schon bei einem Orthopäden gewesen, der mich mit einer ziemlich flott gestellten Diagnose zur Physio geschickt hatte. Bei der Physio war ich ebenfalls gewesen, fünf mal. Und dann war ich auch noch bei meiner Osteopathin gewesen, der das alles ganz schön komisch vorkam und die sich ziemlich sicher war, dass die erste Diagnose falsch gewesen war. Aber unterdessen war das Problem immer schlimmer geworden. Nachts kann ich inzwischen ohne Schmerztabletten kaum noch schlafen, und zumindest vormittags entfährt mir manchmal ein ausgewachsenes Aufheulen, wenn ich von einem Stuhl aufstehe. Und der nächste freie Termin bei "meinem" Orthopäden oder seinen Praxiskollegen wäre irgendwann in der Adventszeit zu haben gewesen. Jetzt hatte L. beim Training mit seinem Orthopädiefreund um einen Termin am nächsten Tag für mich gespielt und gewonnen. So dass ich um die Mittagszeit frisch geduscht und manierlich angezogen auf dem Weg zur Bushaltestelle war. Der Bus in Richtung Orthopädiepraxis fährt nur alle 20 Minuten, und obwohl die Abfahrtszeit noch über zwei Minuten entfernt war, stand er schon mit laufendem Motor und scharrenden Hufen an der Bushaltestelle. Also bin ich gerannt. Der Busfahrer warf mir einen giftigen Blick zu, machte die Tür vor meiner Nase zu und fuhr einfach los. Zusammen mit drei anderen fluchenden und eigentlich pünktlichen Fahrgästen blieb ich an der Haltestelle zurück. Leider mit einer frischen kleinen Pfütze in der Hose. Obwohl ihr in den letzten Monaten öfter mal von mir gehört habt, wie viel besser das Pipiproblem inzwischen geworden ist, wie toll die Gewichte wirken und dass ich extrem optimistisch bin, demnächst wieder durch den Park traben zu können: sowas passiert immer noch. Ich renne sieben-acht Schritte wie auf rohen Eiern und in gemächlichem Tempo, und die Hose ist nass. Und das auf dem Weg zu einem Arzt. Bei dem ich garantiert die Hose ausziehen muss. Und der seine Aufmerksamkeit genau der Region widmen muss, in der das Malheur passiert ist. So dass ihm das nicht entgehen kann. Der außerdem mit L. befreundet ist.
Zum Glück gab es noch die Möglichkeit, mit der Ubahn und dann der Sbahn zu ihm zu fahren. Das habe ich dann getan und war rechtzeitig da, um noch schnell in eine Drogerie zu huschen, eine Unterhose und ein Päckchen Feuchttücher zu kaufen und mich im Affenzahn auf der Praxistoilette wieder blütenrein herzurichten. Aber trotzdem: so geht's nicht weiter. Die Geburt von Michel ist fast ein Jahr her. Irgendwann demnächst wird Kalle trocken sein. Und Mama sollte das auch schaffen. Ich will und werde mich nicht damit abfinden, den Rest meines Lebens gelegentlich in die Hose zu machen, jedenfalls nicht, bevor ich nicht mindestens 70 bin. Für eine OP, habe ich mir sagen lassen, bin ich noch zu jung. Mit Physio bin ich durch. Die Gewichte haben getan, was sie konnten. Sie haben eine Menge für mich getan, bestimmt 60% der Strecke zur trockenen Hose haben sie für mich bewältigt, aber die letzten 40% würde ich gerne auch noch schaffen.

Und ich habe einen Plan. Mal sehen, was daraus wird. Ich werde berichten.

Montag, 21. September 2015

Früher war alles früher.

Es gab damals mindestens fünf Bücherreihen für Mädchen, die von den Abenteuern eines Mädchens mit einem Spitznamen handelten. Der Spitzname endete auf ein i oder ein y. Das Mädchen war meistens in irgend einer Weise widerspenstig, aber das war nur eine Phase, und irgendwann kam der Moment, wo sich das legte und das Mädchen infolgedessen viel, viel glücklicher war. Bis dahin passierten schon ein paar schlimme Dinge. Z.B. geriet Bummi in fürchterliche Gewissenskonflikte, weil sie ihren Eltern ihre Fünf in Englisch verheimlichte. Wenn Kinder in Kinderbüchern was erleben wollten, dann bitte in den Ferien, und das Feld, auf das sich die Erlebnisse zu beschränken hatten, war die Unterstützung der Polizei bei der Festsetzung von Schmugglern. (Astrid Lindgren, Ottfried Preußler, Mark Twain und Michael Ende waren Ausnahmen, und Enid Blyton war unfassbar produktiv.)

Wenn Kinder eingeschult wurden, wurde (so weit ich mich erinnere) nicht die Familie eingeladen, es sei denn, sie wohnte sowieso um die Ecke. Ich weiß noch, dass ich an diesem Tag einen neuen Rock anhatte, dass wir uns vor der ersten Stunde in der Turnhalle versammelten und dann die Kinder aufgerufen wurden und sich zu ihrer neuen Klassenlehrerin stellen sollten, und dass ich eine hübsche Schultüte hatte, die wir in der ersten Schulstunde malen sollten, woraufhin ich die hübsche Schultüte dann schon ein bisschen verfluchte, denn sie war mit einer Ente aus Filz und ganz, ganz vielen bunten Blättern beklebt, das war ganz schön schwierig zu malen. (Noch mehr geflucht hat allerdings meine Freundin Manuela, die konnte nämlich ü-ber-haupt nicht malen und hatte eine Schultüte, auf der sämtliche Schlümpfe zu sehen waren.) In den Schultüten war ein bisschen Süßkram und ansonsten Sachen für die Schule, was aber gar nicht schlimm war, sondern besonders toll, denn das war doch alles neu und spannend: Wasserfarbenkasten, Wachsmalstifte mit Plastikhülse zum Rauf- und Runterschieben, Radiergummi, Spitzer, Füller! Großartig war das. Niemand veranstaltete Gottesdienste, rief bei Caterern an, buchte DJs oder ließ Hüpfburgen im Vorgarten aufpusten.

Laternenumzüge. Von denen habe ich schon oft geschrieben. Früher waren Laternenumzüge am 11.11. und nicht im Oktober oder September oder sonstwann. Sie hatten unmittelbar mit St. Martin zu tun. Darum war meistens ein Mann vom Reitverein dabei, der den heiligen Mann verkörperte, und ein zweiter, der den Bettler spielte. Es gab außerdem keinen Spielmannszug, sondern einen Bläserchor, es gab Pferde, hinterher ein großes Feuer, Glühwein für Eltern und warmgemachte Orangenlimonade für Kinder und Stutenkerle, also Männchen aus Rosinenbrötchenteig mit einer Tonpfeife im Mund.

Wenn wir Klavierstunden, Judo, Segeln, Reiten oder mit Manu und Uli spielen wollten, dann bitteschön, da steht das Fahrrad. Kann sein, dass mich meine Erinnerung da trügt, aber ich glaube, im letzten Kindergartenjahr bin ich auch dahin zu Fuß gegangen, ohne elterlichen Bodyguard.

Nachmittags waren wir draußen. Wir haben in zugewachsenen Gräben gekauert und Feuer gemacht, die Schlauchboote unserer Eltern gemopst und damit unbekannte Gewässer erforscht, mit dem Fahrrad die Stadt oder die Nachbarstadt erkundet, Fußball gespielt, sind auf morsche Bäume geklettert, haben Verstecken im Maisfeld gespielt, während der Mähdrescher schon bei der Arbeit war, Brombeeren geklaut, mit selbstgebastelten (und deshalb zum Glück nicht sehr effizienten) Bogen aufeinander geschossen, und unser wichtigstes Kleidungsstück zwischen fünf und vierzehn Jahren waren Gummistiefel.

Kindergeburtstag ging so: Stefan hatte Geburtstag. Also bekamen Stefans sieben beste Freunde eine Woche vorher eine Einladungskarte, bei der Stefan eigenhändig den Namen der Eingeladenen und das Datum einfügen musste. Uhrzeit musste schon nicht mehr sein, denn alle Kindergeburtstage fingen um drei Uhr Nachmittags an. Als Geschenk kauften wir ein dtv Taschenbuch, irgendwas mit Snoopy drauf, ein Ravensburger Mitbringspiel oder Leonardo-Gläser mit einer Plastikwolke am Stiel zum Umrühren. Am Geburtstag kamen alle sieben Kinder um drei an, von ihren Müttern gebracht, die aber meist noch nicht mal aus dem Auto ausstiegen. Dann gab es Kakao und Kuchen, ab dem zehnten Geburtstag auch mal Cola. Nach dem Kuchen haben wir das Spiel gespielt, bei dem man würfeln und Handschuhe, Sonnenbrille usw. anziehen und dann eine in zwanzig Lagen Zeitungspapier gewickelte Packung Schokolade mit Messer und Gabel essen muss. Außerdem haben wir den Ententanz auf Platte gehört, Verstecken im Dunkeln gespielt, das Mörder-und-Detektiv-Spiel (bei dem nie jemand wusste, wie genau das eigentlich geht), Eierlauf, Topfschlagen, und dann gab es Würstchen mit Kartoffelsalat oder selbstgemachte Burger, und alle Kinder wurden in zwei Schichten in einem Golf nach Hause gefahren, einen Tiefkühlbeutel mit Brauselippenstift, Minismartieschachtel, Storck Riesen und Maoam in der Hand.

Playmobilmännchen gab es in männlich und weiblich, sie unterschieden sich für gewöhnlich durch die Haarfarben: blond, braun, schwarz. Es gab ein paar Sondermännchen, z.B. hatte ich ein Playmobilgespenst, das leuchtete im Dunkeln und hieß Domestos. Bei den Piraten wird es sicher auch ein Männchen mit Holzbein und Augenklappe gegeben haben. Irgendwann gab es dann auch Kinder, sogar ein Baby! Bis dahin mussten die Einheitsmännchen alles sein, und das waren sie ohne Probleme. (Erinnert sich noch eine hier an das fiese Playbig?) Für einen kompletten Waschmitteleimer Lego hatte ich insgesamt zwei Frauen- und zwei Männerperücken, außerdem zwei Mützen und zum Glück sehr viele Helme, weil mein kleiner Bruder die Lego-Ritterburg besaß. Hätte es damals so wie heute in Fahrradentfernung einen Laden gegeben, in dem man Legohaare und Legokleidung nach Gewicht kaufen kann, dann hätte ich meinen Brustbeutel umgehängt und wäre auf mein Hercules-Kinderfahrrad gestiegen wie der Blitz. Meiner Mutter hätte ich natürlich eine Notiz auf dem Zettelblock neben unserem grünen Wählscheiben-Telefon hinterlassen, klar.

Es gab damals eine ganze Industrie von sehr schlauen und handwerklich fabelhaften Menschen, die ihr Geld mit der Konzeption und Produktion extrem guten Kinderfernsehens verdienten (Im Schatten der Eule, der Mondschimmel, das Geheimnis des siebten Weges, die dreibeinigen Herrscher, die Besucher, Robin Hood, das Haus der Krokodile...)

Es gab Kindermarkenterror, aber die Marken waren billig. Meine Mutter hielt uns da raus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Vanilla-Jeans mehr als 80 Mark gekostet hat oder ein Sasch-Sweatshirt mehr als 100. Vor einer Weile erzählte mir eine allein erziehende Kollegin verzweifelt, dass ihr 12jähriger Sohn jetzt eine Canada Goose-Jacke will, weil er der einzige Junge in der Klasse ist, der keine hat (ist er wirklich), und die kosten ab 600 Euro. Meine Mutter hätte laut gelacht und an ihrer Zigarette gezogen, wenn sie geraucht hätte.

Die offizielle Kindheit endete am 13. Geburtstag. Bis dahin wurde es auch unter Kindern als albern betrachtet, Lippenstift zu tragen.

Donnerstag, 17. September 2015

Umfangreiche Sanierungsmaßnahmen

Andere Leute verbringen ihre Elternzeit irgendwo in einem Hippie-Urlaubsland und posten Fotos von schlafenden Babys in Tragetüchern am Strand oder Familienbesichtigungen asiatischer Tempelanlagen. Ich bin ein bisschen faul mit dem Fotoposten, aber heute könnt ihr mir dafür dankbar sein, denn schön ist das hier nicht. Statt die Zehen in weißen Sand zu bohren, habe ich einen Ärztemarathon hinter- und vor mir. Zwei Kinder so kurz hintereinander rocken den Körper ganz schön runter, und gestern habe ich mir die Krampfader ziehen lassen, die mir die zweite Schwangerschaft eingebracht hat. Jetzt liege ich hier, das Bein ist knallorange und blau und dick, und ich bin dankbar für den Stützstrumpf, der noch bis Samstag durchgängig dranbleiben muss und wenigstens einen Teil der Wahrheit vor meinen Augen verbirgt. Nächste Woche steht dann noch ein überfälliger Besuch beim Zahnarzt und beim Hautarzt an, der mir verschiedene Leberflecken entfernt, und zwischendurch bin ich immer mal wieder bei der Physio, denn seit inzwischen drei Monaten tut mir der Hintern weh: ISG-Blockade, was bedeutet, dass es jedesmal zwiebelt, wenn ich gesessen oder gelegen habe und aufstehe. Schon nach kurzer Fahrt verlasse ich die Ubahn im rechten Winkel. (Es gab einen sehr lustigen Moment, als ich mit meiner Schwester auf die S-Bahn gewartet habe und ihr von meinen Erfahrungen mit verschiedenen Laufstilen und Laufschuhen erzählt habe, damals, in der Zeit vor Kalle, als es in meinem Leben noch keine Beckenbodenprobleme, dafür aber einen ausgetüftelten Trainingsplan gab. Neben uns saß eine alte Dame und machte große Ohren. Nach all dem Rarara über Wettkampfschuhe, Lauf-Apps und Kraftübungen kam die S-Bahn dann endlich, und ich erhob mich ächzend und schlurfte mit der Nase auf Hüfthöhe in die Bahn. Da hat die alte Dame wirklich sehr, sehr verwirrt ausgesehen. Vermutlich muss man dabeigewesen sein.) Zur Frauenärztin muss ich auch. Wie machen die Thai-Elternzeitler das? Sind die einfach so entspannt, was ihre Gesundheit betrifft? Vermutlich sind sie einfach jünger, schütteln sich nach der Entbindung mal kurz, tragen ein bisschen Bepanthen hier und da auf und sind wieder wie neu.

Aber wisst ihr was? Wenn ich ganz, ganz ehrlich bin (und dazu ist ein Blog ja da), dann bin ich ein bisschen froh über anderthalb Tage Erziehungsurlaub dank OP. Unten robbt L. mit Michel durchs Wohnzimmer, und ich liege hier oben wie die Made im Speck. Das dicke Bein liegt auf dicken Kissen, neben mir steht eine Tasse Tee (schon nicht mehr richtig heiß, aber immerhin), nachher kommt ein Babysitter, und ich habe die Wahl: lesen? Sherlock glotzen? schreiben? schlafen? Allein die Zeit zu haben, darüber nachzudenken, was ich mit meiner freien Zeit anfangen will - das ist sonst nie. Jetzt werfe ich erst mal eine Ibuprofen ein und mach mir ein paar warme Gedanken.

Dienstag, 1. September 2015

L. sagt, heute beginnt der meteorologische Herbst.

Jedes Jahr ungefähr um die Zeit, wenn die Fruchtfliegen durch die Küche sirren und die Spülmaschine anfängt zu müffeln, wächst bei mir die Sehnsucht nach dem Herbst. (Und guckt mich nicht so an, ihr wisst genau, dass das in jeder Küche passiert irgendwann zwischen Mitte August und Mitte September, selbst in der klinisch reinen Küche meiner Mutter.) Die Schule fängt wieder an, und ich nehme mir vor, dieses Jahr ein braves Mädchen zu sein, meine Bleistifte zu spitzen, meine Hausaufgaben zu machen und gefälligst meine Posts zu schreiben. Zu erzählen gibt es eine Menge, also los.

Gerade fange ich an, mich in meinem Mütterleben zuhause zu fühlen, da wird schon wieder alles anders. Es sieht tatsächlich so aus, als ob unsere Zeit hier in diesem hübschen Häuschen im hässlichen Stadtteil sich dem Ende zuneigt. Und Ende kann ich nicht so gut, da werde ich schrecklich sentimental. Kalles Erdbeerstelle im Garten! Der Blick in die Bäume aus dem Fenster! Die nette Nachbarin! Sogar die blöde Nachbarin mit ihrer Paranoia, wir wollten ihr Leben ruinieren! Auf einmal betrachte ich alles mit Wehmut. Nein, wir haben noch nichts Neues, aber L. hat jetzt endgültig Hummeln im Hintern und bekommt langsam diesen verbissenen Ausdruck, wenn er die Maklerseiten durchwühlt nach einem neuen Zuhause für uns. Ich sehe es ja ein: mir macht die Straße vor unserem Haus schon Angst, so eine friedliche kleine grüne Wohnstraße, und dann kommt auf einmal BLÄMM ein Taxi mit 70 Sachen vorbei. An einer echten Straße könnte ich damit eher leben als hier in der 30er-Zone, an die sich kein Mensch hält, und ich starre die Autofahrer hasserfüllt an, die hier durchbrettern, um fünf Sekunden und eine Ampel zu sparen. Seit sie Momo letzten Sommer totgefahren haben, haben wir keine Ruhe mehr, L. noch weniger als ich. Vor ein paar Tagen war L. morgens um zehn mit Lili im Park spazieren und kam an einer Frau vorbei, um die 25 und völlig kaputt, die eine Flasche Korn erbrach und schnell einen Schluck hinterher nahm. Die Frau war keine Ausnahme, so ist das hier. Jedes Mal, wenn wir ins Kino gehen, reist unser Kindermädchen extra aus der Stadt an, und wenn wir später als elf nach Hause kommen, also immer, dann zahlen wir ihr noch das Taxi nach Hause, womit wir dann bei 80 Euro für den Babysitter sind. Vielleicht ist das ein Grund, dass wir zuletzt im Kino waren, als... Moment... ich bin nicht mal sicher, dass das 2015 war. Wir wollen zurück in die Stadt, wenn wir unser Haus und die Erdbeerstelle mitnehmen könnten, würden wir das gerne tun, geht aber nicht. Und jetzt fühle ich mich in meinem muckeligen Zuhause heute schon so, als hätten wir die ersten Kisten gepackt, selbst wenn es noch zwei Jahre dauern sollte. Wenn eine der Hamburger Damen etwas weiß oder hört von einer schönen Wohnung, die auch noch im Einzugsbereich der U1 liegt, damit wir die Kinder weiter in die dufte Kita bringen können, wäre ich sehr dankbar für einen Tipp.

Das Kochprojekt läuft immer noch sehr gut, inzwischen bin ich bei über 70 neuen Rezepten, und das Jahr ist noch nicht mal zu drei Vierteln vorbei, und allein die Plätzchenbackerei wird mich ordentlich voranbringen. Darum verschärfe ich jetzt die Bedingungen und eröffne heute feierlich den vegetarischen September. Nicht weil L. mich mit seinem Veganerkram weichgekocht hätte, davon ist schon lange keine Rede mehr, sondern einfach so, weil ich selbst mal wieder Lust drauf habe. Eröffnet habe ich den September übrigens mit den Resten einer Schinken-Salami-Pizza von gestern, hüstel, aber wegwerfen konnte ich sie ja wohl kaum? Und gestern Abend hätte wirklich nichts mehr reingepasst, das ist eine der vielen Neuerungen durch die Kinder. Früher gab es das nicht, jedenfalls nicht so schnell, ich konnte immer noch etwas essen. Jetzt bin ich tatsächlich irgendwann satt. Das ist eigentlich nicht schlecht, hätten die Kinder mir nicht gleichzeitig einen Süßigkeiten-Jieper verpasst, den ich früher auch nicht kannte. Ich war immer die, die alle hassen, weil sie sich eine Tafel Schokolade kauft und dann über sechs Wochen verteilt alle zwei Tage ein Stück isst und den Rest zurück in die Schublade packt. Das ist sowas von vorbei. In der Schwangerschaft mit Kalle ging es los, und ich dachte, das geht vorbei, aber es ging nicht vorbei, und jetzt hänge ich genau so drin wie alle anderen auch. Gestern habe ich mir eine Tafel Marabu gekauft, die sind ungefähr doppelt so groß wie eine Milka, und davon sind jetzt noch zwei kümmerliche Stückchen übrig, aber der Tag ist noch nicht vorbei.

Was gibt es sonst noch? Michel krabbelt und steht und schafft es inzwischen schon, von einem Möbelstück zum nächsten zu kommen, ohne dabei zu krabbeln, wenn die Möbelstücke sehr dicht zusammen stehen. Bald wird er laufen. Kalle plappert mir den ganzen Tag die Ohren voll, will meine Hände nehmen und mit mir tanzen, verteilt Küsschen an seinen Bruder, den Hund und alle, die nicht bei drei auf dem Baum sind, und ich sitze dabei und habe das fast zum ersten Mal: dass ich meine beiden Jungs angucke und dabei sehr, sehr glücklich und sehr, sehr entspannt bin (glücklich war ich schon vorher oft, aber entspannt - nie. Nicht, so lange ich denken kann, nicht im Ernst, höchstens mal für ein paar Sekunden, dann kam der nächste Stress oder das nächste Zipperlein oder die nächste Angst.) Vielleicht färben die extrem entspannten Kindergärtnerinnen auf uns ab, vielleicht war die Zeit vorher auch nur ein notwendiger und etwas schmerzhafter Zwischenschritt, der eben passiert, wenn sich das Leben so extrem verändert. Aber jetzt geht es irgendwie wie von selbst. Noch vor ein paar Wochen musste ich mich kümmern und musste Abendessen machen und musste Kindersachen waschen und musste Windeln kaufen und musste trösten und musste tragen und musste die Kinder ins Bett bringen, jetzt kümmere ich mich, mache Abendessen, wasche Kindersachen, kaufe Windeln, tröste, trage und bringe die Kinder ins Bett. Falls ihr versteht, was ich meine. Es ist nicht alles wundervoll, Kalles Eifersucht auf seinen kleinen Bruder z.B. ist nicht einfach und macht mir ganz schönen Kummer, aber auch das kriegen wir hin, und auch dabei denke ich: das hier, das ist meins. Dafür haben wir ganz schön gekämpft, und wie schön, dass wir am Ende Glück hatten, gleich zwei Mal! Wir haben diese Nachbarin, nicht die paranoide, sondern die nette, die uns über den Gartenzaun immer erzählt, wir müssten das hier genießen. Früher dachte ich dann: jaja, wir genießen es ja und wissen auch, wie sie es meint, aber so kann nur jemand reden, der seit 50 Jahren ausschlafen kann, jeden einzelnen Tag. Jetzt schlafe ich jede Nacht so um die sechs Stunden und bin zuhause. Zwar vielleicht nicht mehr lange in diesem Haus, aber jedenfalls in diesem Leben.

Zwar habe ich den vegetarischen September mit einer kalten Ladung Schweineaufschnitt auf Pizza eröffnet, aber heute Abend gab es für Kalle und mich Ofenfritten mit selbstgemachter Guacamole (und Ketchup für ihn, na gut, er ist auch nur ein Mensch). Nach dem Essen habe ich Michel ins Bett gebracht, danach sind Kalle und ich in die Küche gegangen, und im Ofen waren noch die restlichen Fritten, inzwischen schön knusprig, und wir haben uns auf den Küchenfußboden gesetzt, und ich habe ihm erklärt, was ein Picknick ist. Dann haben wir gepicknickt mit Fritten und Guacamole. Und das war toll. Ich weiß nicht, ob ein Zweijähriger sich an so etwas schon erinnern kann, aber ich werde mich jedenfalls noch ziemlich lange daran erinnern.

Dienstag, 11. August 2015

Ätschikolätschi.

Gerade, als ich dachte, jetzt läuft's. Gerade, als ich mir schon fast ausgerechnet hatte, wie viele Tage noch bis zu Michels Kitastart sind. Gerade, als ich mir sicher war, ab jetzt wird alles, alles gut. Und gerade, als noch nicht mal von den Kindern total zerstörte Nächte etwas gemacht haben, denn ich wusste ja: bald.

Gestern war erster Kitatag nach den Sommerferien, und ich dachte, ich frage mal, nur so zur Sicherheit. Denn dass Michel zu November oder spätestens Dezember einen Platz hat, war keine Frage, das hatte uns die Kitachefin ja versprochen: "Ein Selbstläufer ist das bei Geschwistern", hatte sie gesagt. Mit Michel auf dem Arm habe ich beim Abholen von Kalle kurz angeklopft, nur um mal so zu horchen, wie die Ferien waren und wann wir den Vertrag unterschreiben sollen für Michel. Da sah sie mich mit großen Augen an. "Den habe ich jetzt gerade gar nicht auf dem Zettel, helfen Sie mir auf die Sprünge?" Mit wachsender Panik sagte ich, wir hätten doch besprochen, dass Michel ab November in die Krabbelgruppe kommt. "Aber da hab ich gar keine Anmeldung bekommen!" Aber ich hatte eine abgegeben, ganz ganz sicher, mit Kalles unterschriebenem Vertrag zusammen, damals im Dezember! Sie blätterte kurz in einem Ordner: Nö, da war nichts. "Die Gruppen für November hab ich schon geplant, die fürs Frühjahr auch schon", sagte sie. "Da muss ich noch mal gucken. Irgendwas lassen wir uns einfallen. Aber ich hab hier keine Anmeldung." Mit zugeschnürter Kehle bin ich mit meinen Jungs nach Hause geschoben. Zuhause habe ich L. das Drama geschildert. Der sah mich mit schicksalsergebenem Blick an. Wieso heiratet er auch eine Frau, bei der immer die Papiere verschwinden? Egal, mit wem ich es zu tun habe: Banken, Behörden, Kita - immer bin ich die, die alles abgegeben hat und dann ist es wieder nüschte. Das Ganze riecht auch nach Schlamperei meinerseits: klar bin ich mir immer sicher, dass ich alles richtig gemacht habe, klar sind wieder mal die anderen Schuld. Nur: ich hätte alles darauf geschworen, dass ich Recht hatte! Und jetzt? Wie soll das jetzt werden? Mit Job, mit Kindermädchen, mit überhaupt allem, mit dem ganzen schönen Plan? Um eine andere Kita hatten wir uns nicht gekümmert. "Selbstläufer hat sie gesagt" habe ich gestern ungefähr hundertmal vor mich hingemurmelt. "Selbstläufer." Und in die alte Kita, die Durchfallhölle, können und wollen wir Michel jetzt nicht stecken - nicht nach dem unschönen Ende dort mit Kalle.

Die Nacht war unruhig, Kalle war nach einem schlimmen Traum bei mir im Bett, brabbelte im Schlaf, zog mich an den Haaren und trat mir seine zarten, aber erstaunlich kräftigen Füßchen ins Gesicht. Michel hatte trotz Rekordportion zum Abendessen ständig Hunger. Draußen blitzte es, in meinem Kopf tobte ein ganz eigenes Gewitter. Totale Selbstsicherheit ist nicht meine Stärke, obwohl ich mir doch SO SICHER war, blieb ein kleines Stimmchen, das nängerte: "Ja klar, das Schicksal ist gegen dich. Und wenn der Zettel jetzt doch noch in irgend einer Jacke steckt, Hm? Kann das nicht sein? Wär das nicht typisch, dass du durch deine dämliche Schusselei jetzt doch wieder selbst an allem Schuld bist, Fusselhirnchen?" Irgendwann in dem ganzen Gegrübel fiel mir dann wieder ein, wie das genau gewesen war mit dem Abgeben: ich hatte ein Gespräch mit Kalles Gruppenleiterin gehabt und ihr die Unterlagen zu treuen Händen übergeben. Der Vertrag war ja auch offensichtlich angekommen, aber was war mit der Anmeldung? Die Gruppenleiterin ist schrecklich nett und ein echter Glücksfall für Kalle, die wollte ich jetzt auch nicht beschuldigen, das versemmelt zu haben. Aber irgendwer hatte es versemmelt. Nur wer? ("Du selbst, ganz klar", giftete das Stimmchen.)

Heute morgen kam L. aus der Kita wieder, nachdem er Kalle abgeliefert hatte. Die Chefin hatte ihn zu sich herein gewunken. "Willst du zuerst die gute oder die schlechte Nachricht?" Ich will immer die schlechte zuerst: "Michel hat keinen Kitaplatz. Aber: der Antrag ist aufgetaucht, datiert vom vierten Dezember. Sie hat ihn einfach falsch abgeheftet und übersehen."
Der nächste Platz, der frei wird, gehört Michel. Das ist im Moment ein schwacher Trost, denn aus dieser Kita will keiner wieder weg. Es gibt Eltern, die ziehen ans andere Ende Hamburgs und nehmen jeden Tag eine fast einstündige Anfahrt auf sich, bevor sie wechseln. Wenn wir Pech haben, wird es April. Oder Mai. Oder was weiß ich. Und wie es bis dahin werden soll, weiß ich jetzt auch nicht. Ich kriege ab November kein Elterngeld mehr und muss arbeiten. Muss und will, sonst drehe ich irgendwann durch, und die Chancen, irgendwann wieder in den Job zu kommen, werden auch nicht größer. Machen wir's wieder wie bei Kalle, die Kinderfrau muss häufiger ran, und L. auch? Es geht ja nicht nur um mich und ihn: auch für Michel hätte ich mir das gewünscht, denn Kalle profitiert von dieser Kita mehr, als mit Worten zu beschreiben ist.

Und ich hatte mich so drauf verlassen!

Aber ein bisschen froh bin ich schon, dass der Zettel aufgetaucht ist. Dass mein Fusselhirn einmal nicht Schuld ist. Dass das Stimmchen jetzt gefälligst die Klappe zu halten hat. Und dass wir jetzt in einer Kita sind, in der die Chefin so etwas zugibt. Der windige Chef der alten Kita, von mir immer "das Durchfallwiesel" genannt, hätte das Ding klammheimlich geschreddert und alles abgestritten, bevor er einen Fehler eingeräumt hätte.

Und vielleicht geschieht ja ein Wunder, und wir flutschen doch noch so rein.




Mittwoch, 5. August 2015

Weiß hier jemand, ob Schlaf manische Phasen auslösen kann?

So sieht's nämlich aus hier: heute ist unser Kindermädchen noch da. Morgen nicht, und morgen tagsüber stehe ich noch mal vor der unfassbar harten und brutalen Aufgabe, meine beiden Kinder alleine (!GASP!) zu betreuen. Bis Abends dann meine Schwester kommt, die bis Sonntag bleibt. Und Freitags meine Eltern dazu kommen, für die ich seit der Geburt der beiden nur noch eine Nebenattraktion bin und die bis Sonntag liebevoll mit meinen Jungs herummuckeln werden. Sonntag gegen Abend kommt L. von seiner Wochenend-Eskapade zurück, wir gehen vielleicht mal auf diesen Eismarkt am Alten Mädchen, und Montag morgen würde ich am liebsten eine Flasche Sekt öffnen, wäre gerade nicht alkoholfrei, denn Montag fängt nach drei Wochen Sommerferien die Kita wieder an. Dann ist ja quasi schon Mitte August! Dann also noch der halbe August, dann September, Oktober, und vielleicht hat Michel ab November auch einen Kitaplatz. Gerade liegt die Welt vor mir wie eine große, bunte... was weiß ich... jedenfalls wie etwas Schönes, Entspanntes, Sommerliches und Fröhliches. Es ist nämlich so, dass ich zwar gerade von keinem anderen Treibstoff als koffeinfreiem Kaffee mit Eiswürfeln und dem einen oder anderen Glas Buttermilch angetrieben tatsächlich viel Spaß mit den beiden Jungs habe und sie hoffentlich auch mit mir, dass ich sie gerade täglich ungefähr 50mal sentimental anglotze und denke "Hach!" oder so, aber trotzdem habe ich auch gerade das Gefühl, ich könnte noch so viel anderes tun. Ich habe ein paar Ideen, die ich gerne aufschreiben würde, ich muss mir langsam überlegen, was und wann und wie ich wieder arbeiten will, und sobald meine zweiten Tage seit der Geburt endlich vorbei sind (ein grässliches Blutbad, ist das jetzt immer so?), kommt Gewicht Nr.4 zum Einsatz und dann hoffentlich auch bald die Laufschuhe wieder.

Michel wacht jetzt im Schnitt pro Nacht nur noch zwei mal auf, und ich vibriere vor Tatendrang. Schlaf ist tatsächlich der ganze Unterschied. Mit oder ohne Schlaf stellt sich die exakt gleiche Szenerie dar wie einmal von David Lynch gefilmt und einmal von den Leuten, die sonst die Ferrero-Weihnachts-Werbefilme drehen. Ohne Schlaf ist das Leben ein ständiger zäher Kampf gegen lauter kleine Gemeinheiten, die in meiner spröden, müden Seele schrapnellartige Schäden anrichten. Ohne Schlaf drohen Nervenzusammenbrüche wegen einer patzigen Bemerkung oder einer nicht weggeräumten Kaffeetasse von L.. Ohne Schlaf ist Kindergebrüll immer persönlich gemeint und der Beweis, dass ich als Mutter eine Vollniete bin. Ohne Schlaf habe ich absolut keine Reserven für solche Mini-Kataströphchen wie eine leere Waschmittelbox, eine runtergefallene halbvolle Glasnuckelflasche, eine ausgelaufene Windel oder eine Osteopathin, die in den Sommerurlaub fährt, wenn mein Rücken sie dringend bräuchte. Mit - türilü, kein Problem! Lächle, und die Kinder lächeln zurück! Hach, was ham die alle nur, die Muttibloggerinnen und ihr ewiges Gejammer von wegen keine Zeit zum Duschen? Ey, einatmen, ausatmen! Mutti hatte ihre sechs Stunden heute Nacht, genau wie gestern und vorgestern auch! Und jetzt? Suche ich mir einen Cellolehrer? Lerne ich japanisch? Oder diesen Tanz, wo sie immer in der Scheune herumstampfen und Yippie schreien?

Nee, bei näherer Überlegung wohl doch nicht.



Montag, 27. Juli 2015

Kamillentee, irgendwer?

In den Jahren nach dem Abi habe ich an Wochenenden und in den Semesterferien in einem Altenpflegeheim gejobbt. Die Schwestern haben alle geraucht wie die Schlote. Ich damals bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch gerne, aber nicht während der Arbeit, das fand ich eklig. Zum Einen fing die Schicht barbarisch früh an, und so weit war ich dann doch noch nicht, mir morgens um sechs die erste Fluppe anzuzünden. Zum Zweiten kam ich mir komisch vor, inmitten all der medizinischen Geräte, der Spritzen und der teilweise fies hustenden Alten. Aber es dauerte nicht lange, da war mir klar, warum die Schwestern darauf keine Rücksicht mehr nahmen. Nur wer rauchte, hatte echte Pausen. Denn es gab kein anderes Mittel, sich innerhalb der erbärmlich kurzen und erbärmlich dünn gesäten Pausen nach all der Knochenarbeit wirklich zu entspannen. Jeder, der raucht, kennt das: man nimmt im dicksten Stress einen Zug und wird sofort ruhiger. Außerdem kamen die Alten sofort angelaufen, wenn sich eine Schwester im Schwesternzimmer niederließ. Eine vermisste ihre rosa Strickjacke, ein anderer wollte am Nachmittag gerne einen Einlauf, eine dritte juckte es am Rücken, und viele wollten einfach nur ein Schwätzchen halten oder nach ihrem seit Jahrzehnten toten Ehemann fragen. All diese Anliegen richteten sie aber nie an eine Schwester, die gerade rauchte. Beim Kaffee trinken, Brötchen essen oder mit toten Augen vor-und-zurückwippen durfte man stören, beim Rauchen niemals. Und so suchte ich Strickjacken, hielt Schwätzchen, notierte und verabreichte Einläufe und versprach, Grüße an tote Ehepartner auszurichten, wenn ich sie sähe. Das war völlig in Ordnung, ich war erstens die Dienstjüngste und zweitens nur am Wochenende und in den Ferien da. (Die unter den Schwestern beliebteste Zigarettenmarke war übrigens HB. Es waren raue Zeiten.)

So wie den Schwestern damals mit den Zigaretten ging es mir in den letzten Wochen mit meinem abendlichen Wein. Kaum hatte ich abgestillt, war er da. So gut wie alle Eltern kleiner und kleinster Kinder werden das bestätigen können: zwar gibt es eine Reihe von Schlüsselreizen, die einem deutlich sagen "die Kinder haben Sendepause, jetzt, meine Liebe, in diesen ein-zwei Stunden, bis du ins Bett fällst, bist DU mal dran". Die Tatort-Melodie gehört bestimmt für manche dazu, oder ein schnell-schnell Legofrei geräumtes Wohnzimmer. Aber nichts, zumindest nichts, wovon ich wüsste, wirkt so schnell und zuverlässig wie ein Glas Wein. Oder Gin Tonic, oder was weiß ich was andere Leute so trinken, aber jedenfalls: Alkohol. Alkohol ist erwachsen und Freizeit und Feierabend und Entspannung und Anregung und all das, woran es den Tag über trotz aller fanatischen Kinderliebe gefehlt hat. Hätte mir das jemand wegnehmen wollen, hätte ich mit Panik und heftiger Aggression reagiert. Meins! Das bisschen ist jetzt mal meins! Das beschlagene Glas, die Eiswürfel und ihr leises Klirren, das schöne Korkengeräusch, das gehört mir.
Und niemand hat es mir wegnehmen wollen. Weshalb ich es jetzt eben selbst tue. Denn ich fand in den letzten Tagen, es wurde ein bisschen viel. Ich bekomme schon von wenig Wein leicht üble Kater, manchmal sogar Migräne. Ich kann auch nicht schlafen. Das heißt, ich kann sowieso schon nicht schlafen, mit zahnendem Baby noch weniger, und die paar Stunden, die dann noch bleiben, radieren zwei Glas Weißwein (oder mehr, Schockschwerenot) zuverlässig aus. Das würde eigentlich schon fast reichen, um es zu lassen, zumindest bis die Zähne da sind. Dann habe ich festgestellt, dass ich seit der Wiedereinführung des Feierabendweins noch viel häufiger auf die Uhr gucke. Angefangen um zehn Uhr früh habe ich jeden Tag bestimmt zwanzig Mal die Stunden gezählt, bis die Kinder im Bett sind und die Eiswürfel im Glas. Und ich fand es schade, denn eigentlich habe ich doch keine Kinder bekommen, um sie jeden Tag aufs Neue schleunigst aus dem Weg zu wünschen? Klar war das alles anstrengend und oft überfordernd und frustrierend, aber... ich fand den Tunnelblick auf die Cocktailstunde gruselig. Und darum habe ich seit letztem Mittwoch das mit dem Feierabendwein gelassen. Ich habe beschlossen, das nicht als Selbstbestrafung oder Erziehungsmaßnahme zu betrachten, sondern als Erholungspäuschen. Und es tut mir ehrlich gut, von Anfang an. Ich habe ein paar Lieblingsgetränke aus der Schwangerschaft und Stillzeit reaktiviert (kalter Karo-Kaffee mit Milch und Eiswürfeln! Klirrt auch sehr schön!), ich schlafe besser, ich bin entspannter und fröhlicher und geduldiger mit den Kindern, und ich stelle überrascht fest, dass ich plötzlich mehr Feierabend habe. Zwar fehlt mir der erste Schluck Wein schon, nachdem die Muckelchen selig schlafend in ihren Betten liegen. Aber der Rest des Abends dauert ohne Alkohol einfach länger: die Zeit vergeht nicht so fix, ich muss mir neue, anders entspannende Tätigkeiten überlegen, und wenn ich weiß, dass mich kein Weißwein um den Schlaf bringt, traue ich mich auch wieder, länger aufzubleiben.
Und ich mache das jetzt erst mal so, mal sehen, wie lange.

Ich war noch nie in Harrys Bar in Venedig (nicht gerade für Selbstdisziplin beim Essen und Trinken berühmt), aber ich habe das Kochbuch schon ein paar mal von vorne bis hinten durchgelesen. Jedes Jahr im Winter feiern sie mit allen Stammgästen ein großes Fest, fressen und saufen die Vorräte leer und hängen am nächsten Tag ein Schild in die Tür: Geschlossen für Kamillentee. Dann bleibt die Bude für ein paar Wochen dicht, und danach eröffnen sie neu - mit frischen Vorräten, rosigen Wangen, ein paar Pfündchen weniger und neuer Lust an gutem Wein und noch besserem Essen. So in etwa denke ich mir das.

Mittwoch, 22. Juli 2015

Raider heißt jetzt Twix. Aber sonst ändert sich nix.

Liebe Abkürzungsdamen, Demnächst-Abkürzungsdamen und Ex-Abkürzungsdamen,

heute Nacht irgendwann um drei konnte ich nicht mehr. Ich war um elf ins Bett gegangen. Der Kleinste hatte eine Flasche um sieben bekommen, eine um zehn, eine um halb zwölf, eine um halb eins, eine um zwei, und um drei brüllte er schon wieder und ließ sich weder durch Rumtragen noch durch Gesang oder durch Zahn-Kügelchen beruhigen. Fieber hatte er keins, streckte aber gierig die Händchen nach dem halbleeren Fläschchen auf dem Fensterbrett aus. Zwar sind sowohl L. als auch ich sehr verfressen (jeder auf seine Weise), aber DAS war selbst bei einem Kind von uns ein bisschen viel. Und die Nächte davor waren nicht viel besser gewesen. L. bleibt von dem ganzen Sums weitgehend verschont; meistens schlafen wir in zwei Zimmern und ich bei dem Baby, das ist zwar nicht ganz fair, aber trotzdem finde ich, alle Fairness der Welt ist es nicht wert, dass wir beide um den Schlaf kommen.

Trotzdem war jetzt genug genug. Ich packte mein Bettzeug und meine Wasserflasche, weckte L. aus tiefstem Schlaf, erklärte ihm, dass er ab hier und jetzt übernehmen musste, und verzog mich mit Ohrenstöpseln auf den mit Betten gut ausgestatteten Dachboden. Dort schlief ich friedlich bis halb acht. Und als ich wieder herunterkam, empfing mich L. mit strengem Blick. Ich hatte mein Telefon neben dem Bett liegen gelassen, als letztes hatte ich Kommentare zum letzten Post gelesen (vielen Dank auch), und er hatte Safari geöffnet und war stinksauer. Es ist nämlich so: wir hatten das besprochen. Irgendwann hatten wir mal entschieden, dass im Blog die Kinder nicht mit echtem Namen auftauchen. Dafür haben wir eigentlich beide gute Gründe. Eine Weile lang habe ich das auch so gemacht, mein Großer hieß dann Huckleberry oder wie auch immer. Irgendwann war mir das lahm erschienen und anstrengend, und es passierte ja auch nichts Bedrohliches, und ich dachte mir, was soll's. Nur hatte ich das nicht mit L. besprochen, da war ich wohl zu lässig für.

Um es kurz zu machen, ich hab nämlich heute Abend noch eine Menge vor: er möchte nicht, dass die Jungs hier mit echtem Vornamen auftauchen. Ich war erst ein bisschen angefasst, aber dann habe ich eingesehen, dass diesmal ausnahmsweise ich die bin, die Mist gebaut hat. Und so weit das noch möglich ist, möchte ich das rückgängig machen. Darum werde ich den Rest des Abends damit verbringen, die Namen der Jungs aus den Posts zu tilgen. Und damit ich sie nicht B Punkt und J Punkt nennen muss, nenne ich sie nach zwei meiner Lieblings-Kinderbuch-Helden Kalle und Michel. B punkt ist Kalle, J Punkt ist Michel.

Dann mal los.

Montag, 20. Juli 2015

Lieber Kalle, dieses Glas Wein trinke ich auf Dich.

Jetzt vor zwei Jahren lag ich in einem erfreulich klinischen Kreißsaal des UKE, und eine Oberärztin namens Flumpi nähte mir gerade den Damm. Das war ziemlich viel Arbeit, in der Zeit stricken andere einen Pulli, aber am Ende hat sie es geschafft, und sowieso habe ich nicht allzu viel davon mitbekommen, denn auf meinem Bauch lag Kalle. Nach vier Jahren Gemurkse und Gemache und Gewünsche und Gehoffe lag er tatsächlich da, alles war dran, er war genau richtig groß und schwer und prächtig und lebendig. Und das ist er heute, zwei Jahre später, immer noch: genau richtig. Richtig quirlig und richtig neugierig und richtig lieb und richtig frech und richtig verfressen und richtig großzügig und richtig lebendig, vor allem das.
Heute war der erste Geburtstag, von dem er überhaupt etwas mitbekommen hat. Eigentlich werden Geburtstage in der Kita gefeiert, mit einer selbst angezündeten und selbst ausgepusteten Kerze, einem besonderen Geburtstags-Zug und einer Krone, und jetzt hat ausgerechnet ab heute die Kita Sommerferien, und nüschte ist es mit dem Kita-Geburtstag. Das mussten wir natürlich wettmachen. Gestern Abend hing ich etwas kurzatmig in den Seilen, nachdem ich unfassbar viele Luftballons aufgepustet habe (ich empfehle allen Müttern die Anschaffung einer Ballonpumpe), aber ich hatte einen Kuchen mit bunten Streuseln und ein paar sorgfältig ausgesuchte und sogar eingepackte Geschenke (wer einmal gesehen hat, wie mies ich im Geschenke einpacken bin, wäre grundsätzlich dagegen, dass ich überhaupt Kinder bekomme. Direkt nach dem Top-Albtraum-Job, bei H&M Kleider zusammenlegen zu müssen, käme der zweite Albtraum-Job, in einem Laden das Gekaufte als Geschenk verpacken zu müssen). Am Ende hat Kalle das Mutterherz erwärmt, indem er sich am meisten über den Kuchen und die Ballons gefreut hat, aber er hat auch den halben Tag mit dem Playmobil-1-2-3-Forsthaus und dem Aquadoodle gespielt. (Ihr wisst nicht, was ein Aquadoodle ist? Na gut. Vor zwei Jahren und zwei Wochen wusste ich auch noch nicht, was ein Maxi-Cosi ist, und offensichtlich weiß ich bis heute nicht, wie man ihn schreibt.)(Jedenfalls ist ein Aquadoodle so eine Art Matte, auf der man mit einem Stift malen kann, der nur mit Wasser gefüllt ist und deshalb nicht die Möbel ruiniert. "Braucht man sowas?" Ich finde, man braucht das.)

Ich habe mir vorgenommen, heute mal nichts über Dankbarkeit und Undankbarkeit und den ganzen Dunstkreis dieser Themen zu schreiben, sondern einfach nur über den Tag. Und der sieht gerade so aus: ich sitze hier unten in meinem Ohrensessel, meinen Rechner auf dem Schoß, und sowohl der Rechner als auch ich fühlen uns gut aufgeladen und bereit für so ziemlich alles. Neben mir im Regal steht ein Glas Weißwein mit Eiswürfeln, und noch viel wichtiger: oben in zwei weißen Gitterbettchen liegen zwei kleine Jungs, der eine im Schlafsack, der andere schon im Schlafanzug und mit Bettdecke und Kissen. Kalle kann inzwischen solche Wörter sagen wie Betonmischer, Eichhörnchen oder Buchecker, er besteht weiterhin darauf, dem Lehrbuch widersprechend Chili und Lakritz und solche Sachen zu mögen, er spielt gerne mit Wasser, beobachtet Tiere und macht sich dazu für kleine Tiere ganz klein (für Schnecken legt er sich auf den Bauch und stützt das Kinn auf), lernt gerade die Bedeutung des Wortes "Gemütlich" und macht mir jeden Tag auf hundert Arten klar, dass es das alles wert war: die Spritzen, die Ängste, die Kilos, die Rechnungen für nix, die OPs, die Pleiten und die Superpleiten und das, was danach kam. Ich weiß, so funktioniert es nicht, aber für ihn hätte ich auch die doppelte Ladung Pleiten auf mich genommen. (Dazu hab ich auch noch was zu erzählen, bestimmt bald. Bitte haltet mich nicht für doof oder vergesslich oder beides, ich weiß genau, dass man es so nicht sehen darf... wie gesagt, ein andermal, heute fühlt es sich so an.) Michel wechselt gerne im Schlaf alle fünf Minuten die Position, dann knallt die Schiene an die Gitterstäbe und es gibt einen Mordskrach, der mich früher immer aufgescheucht hat, inzwischen winke ich ab, wenn hier die Eiswürfel im Glas klirren. Kalle dagegen sucht sich einfach die unbequemste Position, die im Bett möglich ist, und bleibt dann die ganze Nacht so liegen, lässt sich aber bereitwillig umbetten, sagt einmal kurz und verschlafen "Mama" und ratzt einfach weiter.

Und Mama, das bin dann wohl ich.

Mittwoch, 15. Juli 2015

Auf bessere Zeiten! Und warum jetzt wirklich alles besser wird. Ganz bestimmt.

1. Nein, das Wunder der durchgeschlafenen Nacht hat sich nicht wiederholt, auch nicht annähernd. Aber ich arbeite dran. Mit etwas flexiblerer Bettzeit für Kalle, die dazu auch noch für mich entspannter wird, weil L. sich angewöhnt hat, ihn ins Bett zu bringen. Mit einem sättigenden Abendbrei für Michel, zusätzlich zum Fläschchen, den er mir zwar am Anfang entrüstet um die Ohren gespuckt hat, aber inzwischen zu mindestens 50% isst (wobei der Rest gleichmäßig in seine Haare geschmiert wird, die sonst eigentlich kaum vorhanden zu sein scheinen, bis er mit dem Brei anfängt, woraufhin sie plötzlich geradezu buschig wirken. Jede Menge Frisur! Mit jeder Menge Platz für Brei!), mit einer ganz guten Mischung aus Abenden, an denen ich um acht im Bett liege, und solchen, an denen ich so ziemlich das Gegenteil tue. Sapristi, wenn ich und meine Augenringe so weiter machen, dann hält mein Touche Eclat jetzt doch bis nächstes Frühjahr!

2. Außerdem mit einer Gute-Nacht-Routine oder etwas, was sich einer Routine annähert - so dass ich inzwischen mit ziemlicher Gewissheit weiß, um halb acht schläft wenigstens Michel, Kalle ist bei L. in guten Händen, und ich kann theoretisch um zwanzig vor acht in der Bahn Richtung Mädchenabend sitzen, ohne dass es vorher noch zu Verantwortungsdiffusion und Schreierei kommt.

3. Michel krabbelt und zeigt keine Neigung, wieder damit aufzuhören. Die Grundgesetze der Physik müssen auch für ihn gelten, irgendwann demnächst muss er abends einfach körperlich erschöpft genug sein, dass es bis zum nächsten Morgen reicht!

4. Michel sitzt außerdem, und er steht. Er robbt auf das Sofa zu, greift einmal zu, wackelt noch ein bisschen in den Kniekehlen uuuuuund - steht. Wenn es drauf ankommt, zehn Minuten lang, und auch den Rückweg auf den Boden meistert er inzwischen immer öfter. Aber wer sitzen, krabbeln und stehen kann, ist doch kein Baby mehr? Aus unserem Baby wird ein Kleinkind. Und während ich weiß Gott keine gute Babymama bin, eine gute Kleinkindmama kann ich sein.

5. Das Haus zu verlassen, wird immer einfacher. Der erste Schritt war, kein abgekochtes Wasser mehr zu brauchen. Als Nächstes können die Fläschchen insgesamt zuhause bleiben, Michel kriegt dann einfach ein Rosinenbrötchen in die runde Faust gedrückt und gut. Mit katastrophalen Windel-GAUs ist auch kaum noch zu rechnen, ich brauche also nur noch eine Windel und eine Wechselgarnitur, die ich in 87% der Fälle genau so zuhause wieder ins Regal sortiere. Und mittlerweile habe ich das Hamburger Budni-Netzwerk im Blut und weiß, egal wo ich hingehe, zwischen acht und 20 Uhr bin ich nur wenige Schritte von einer Drogerie entfernt, die es mir netterweise ermöglicht, kostenlos und unkompliziert mein Kind dort zu wickeln, und zwar ohne eigenes Material mitbringen zu müssen.

6. Jede Grenzerfahrung mit Kindern macht uns stärker. Letzte Woche z.B. haben wir nach der wunderschönen Hochzeit meiner Schwester im tiefsten, gluthitzigsten Bayern beschlossen, dass die Kinder und ich wohl angesichts von aufreißenden Autobahnen, Horrorstau und all dem Wahn lieber nicht mit L. im Auto zurück nach Hamburg fahren, sondern per Bahn. Das Ergebnis war, dass L. um halb sieben nach ereignisarmer bis langweiliger, wohlklimatisierter Fahrt zuhause war und wir um halb eins nach einer Irrfahrt in defekten, 55 Grad heißen ICEs, Bäumen auf den Schienen und endlosen Umleitungen durch die Walachei. Aber auch das hat geklappt, wir sind angekommen, alle sind noch heil, und nun habe ich wieder etwas, worauf ich zwar keine Lust habe, aber was mir keine Angst mehr macht. Zwölf Stunden Bahnfahrt mit Kleinkindern incl. Doppelkinderwagen und zigmal umsteigen: kriegen wir hin.

7. Es kommt vor, dass ich mich nach ein paar Minuten verdächtiger Stille frage, wo eigentlich Kalle steckt. Einmal darf ich raten: am Bücherregal, vertieft in irgend ein Bilderbuch über Bagger, Einschlafen, Tiere oder was auch immer. Er klettert alleine auf den Lesesessel, sucht sich etwas aus, sitzt dann da und liest. Ist das nicht wunderbar? Eines Tages sitzen wir zusammen auf dem Sofa, er mit seinem Buch, ich mit meinem, und streichen uns alle paar Seiten liebevoll übers Haar.

8. Jede Woche können die zwei ein bisschen mehr miteinander anfangen. Stehe ich z.B. unter der Dusche und Michel in seinem Gitterbettchen und nölt, und das Nölen hört plötzlich auf, so dass ich tropfnass ins Schlafzimmer haste, um sicher zu gehen, dass er noch atmet, dann steht dort Kalle auf der anderen Seite des Gitters und macht Faxen, und Michel beobachtet ihn hingerissen. Sitzen sie zusammen im Doppelkinderwagen, halten sie Händchen.

9. Während ich hier sitze und tippe, hat L. zu tun: er muss sich bis heute Abend fieberhaft überlegen, welches von drei möglichen Lastenfahrrädern er gerne von seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen würde: das Babboe Curve mit E-Motor, das Nihola family oder ein Christiania light? Das sind drei fabelhafte, grundsolide Fahrräder, die vorne einen großen Kasten haben, in den man nicht nur die Kinder, sondern auch noch den Hund setzen kann. Wer in letzter Zeit mal in Kopenhagen war, hat sie dort bestimmt in rauen Mengen herumfahren und die Radwege verstopfen sehen. Wenn das nicht auf großen Spaß mit kleinen Kindern herausläuft, weiß ich es auch nicht. Vor uns liegt ein Sommer voller Ausflüge, Fahrtwind, Picknicks, Muskelkater und Abenteuer.

10. Es muss einfach. Und ich weiß, dass es besser wird.


Mittwoch, 8. Juli 2015

Rakete auf Schienen

Muss ich auch nur zwanzig Minuten stehend und eingezwängt in einer engen Ubahn aushalten, könnte ich durchdrehen. Die Vorstellung, durch einen engen Tunnel zu kriechen, der gerade mal so breit ist wie ich, ist für mich eine der schlimmsten. Ich flippe ja schon aus, wenn sich ein Nachthemd nachts um mich wickelt! Wie es sein muss, monatelang ein Bein komplett in Gips zu haben und auch hinterher drei Monate lang rund um die Uhr eine Fußfessel zu tragen, mag ich mir kaum vorstellen. Egal, ob man das nicht anders kennt oder doch, schön kann es nicht sein. Ich war deshalb immer bereit, einen großen Teil von Michels Gemecker auf seine beengten Verhältnisse zu schieben. Trotzdem war immer auch klar, dass er irgend etwas will - irgend etwas, was er eben noch nicht kann, aber gerne können würde. Er hat nur drauf gewartet, endlich loslegen zu können. Und jetzt kann er. Er trägt zwar immer noch jede Nacht vierzehn Stunden lang die Schiene, aber davon abgesehen ist er frei. Frei!

Seit knapp zwei Wochen krabbelt er. Damit ist er schon mal mindestens sechs Wochen früher dran als Kalle. Und es hat sich so viel Energie aufgestaut, dass er jetzt schon stehen will. Er sucht sich irgend etwas, woran er sich hochziehen kann, macht den herabschauenden Hund, hält sich erst mit einer und dann mit der anderen Hand fest und steht. Dabei strahlt und gurrt er glücklich in die Runde, minutenlang, bis ihm aufgeht, dass er noch nicht weiß, wie er hier wieder runterkommt. Dabei helfe ich ihm dann. So machen wir das stundenlang, und er ist dabei so fröhlich und unternehmungslustig, dass es wirklich eine Freude ist, in seiner Nähe zu sein. Ich glaube wirklich, der wird mit zehn Monaten laufen, und habe ein bisschen Angst, denn gesund ist das laut Kinderarzt nicht (wobei der das vielleicht damals nur zur Beruhigung gesagt hat, weil Kalle sich so viel Zeit gelassen hat). Und! In der Nacht von Montag auf Dienstag hat er zum ersten Mal durchgeschlafen, von 20 bis 6 Uhr! Ich bin daraufhin gestern pfeifend durch den Tag gehüpft, habe heute Nacht direkt von einem dritten Kind geträumt (wobei es in dem Traum vorrangig um die Mahlzeiten ging, die auf dieser Phantasie-Wochenstation serviert wurden), und habe so dermaßen Oberwasser, dass ich mir eine scheuern würde, wenn ich nicht ich wäre. Und kaum ist Michel ein bisschen freier, bin ich es hoffentlich bald auch und kann mit der neuen Energie, die mir der lang vermisste Schlaf bringen wird, endlich wieder all die Dinge machen, die andere Erwachsene auch tun! Sachen lesen, Sachen schreiben, Sachen kochen, noch mehr Sachen kochen meine ich, Unkraut jäten, Hemden bügeln, den Stau auf dem Festplattenrekorder wegglotzen, Abende mit Wein auf der Couch verbringen, ausgehen, (Zelda spielen, hüstel...) und und und. Und dann berichte ich bestimmt auch noch mal ausführlicher von New York und von der Hochzeit meiner Schwester, auf der wir das letzte Wochenende verbracht haben. Vielleicht findet sich sogar ein unscharfes Foto von Kalle im Matrosenanzug? Mal sehen.

Nein, mit Michel ist alles gut. Mit wem nicht alles gut ist, ist Kalle. Montag waren wir beim Kinderarzt zur U7, und es gibt ein Problem. Wieder mal eins, das "extrem selten" und "seit 15 Jahren in dieser Praxis nicht vorgekommen" ist. Die Fontanelle ist noch nicht zu, auch nicht annähernd, bestimmt vier Quadratzentimeter weiche Schädellose schädeldecke hat er mitten auf dem Kopf. Natürlich habe ich das bemerkt, aber ich dachte immer: so ist das bei kleinen Kindern, erst ist sie offen, und dann wächst sie irgendwann zu. Ich wusste nicht, dass es dafür eine Deadline gibt. Jetzt hoffen wir, dass sie bald zugeht. Und beim Spielen wird er ab sofort einen Helm tragen müssen. Zwei Stück habe ich bestellt, einen für die Kita, einen für Zuhause, und die kommen hoffentlich morgen an. Ich weiß, vermutlich ist das alles gar nicht schlimm, und besser zu spät als zu früh geschlossen, aber... ächz. ("Du musst auch immer was Besonderes sein", hat mein bekloppter Exfreund mir gerne vorgeworfen. Muss ich nicht! Glaub mir einfach, muss ich nicht! Ich lege absolut keinen Wert darauf, auch nur noch einmal im Leben von einem Arzt zu hören, dass sowas noch nie war.)

Montag, 22. Juni 2015

Angekommen.

Wir sind wieder da. Also, gelandet sind wir letzten Mittwoch um halb acht. Aber wirklich wieder da bin zumindest ich erst jetzt. Mit der Zeitverschiebung auf dem Hinweg sind wir immer gut klargekommen, der erste Abend fühlt sich einfach an wie eine lange, lange Hamburger Kneipennacht. Danach schlafen wir, so lange wir können, und ab dann läuft es. Zurück ist schwieriger. Seit Mittwoch habe ich jeden Tag die Stunden gezählt, bis die Kinder im Bett sind und ich endlich schlafen gehen kann, und wenn es dann so weit war, lag ich hundemüde und hellwach zugleich da und habe zugeguckt, wie es draußen schon wieder heller wird. Zombies schreiben keine Blogposts, darum habe ich das genau wie die Bügelwäsche seit Tagen vor mir hergeschoben. Liest hier überhaupt noch jemand? Für die paar dürren Zeilen zum Thema Schlafentzug, Dankbarkeit vs. Undankbarkeit und all den anderen täglich-grüßt-das-Muttertier-Kram? Mal sehen.

Jedenfalls:
Michel kann krabbeln! Seit bestimmt vier Wochen geht er schon auf Hände und Knie und hobelt dann mit Begeisterung vor und zurück. Zwischendurch hat er sich auch auf die Füßchen gestellt, eine Art herabschauender Hund. Aus dieser Position ist er dann manchmal auf die Nase gekracht, das kann nicht schön gewesen sein, aber es hält ihn nicht davon ab, es weiter zu versuchen. Und aus dem Hobeln ist inzwischen eine ziemlich gezielte Vorwärts- oder im-Kreis-Bewegung geworden. Ich lege ihn auf den Teppich, platziere ein buntes Spielzeug zwei Meter entfernt, und er macht sich auf den Weg. Weil er aber immer noch am liebsten den ganzen Tag auf meinem Arm sein würde, robbt er auch oft hinter mir her, und sobald ich stehen bleibe, ziehen zwei kleine Hände von hinten an meinen Hosenbeinen. Erstaunlich stark ist er auch, es kommt der Tag, da klettert er einfach an mir hoch wie an einem Laternenpfahl. Und weil Schlaf immer noch die alles verdunkelnde Gewitterdenkwolke über meinem Kopf ist, war spätestens mein zweiter Gedanke dazu: wie schön, vielleicht macht ihn das müder und wir schlafen demnächst durch? Ganz eventuell?

Ich darf nicht zu viel über Schlaf schreiben, sonst hypnotisiere ich mich selbst und krache gleich mit dem Kopf in die Tastatur, darum bringe ich es schnell hinter mich und dann auf zu neuen Themen. Seit Neuestem greife ich nachts zum Telefon, wenn ich ihn gefüttert habe, und schreibe auf, wie viel Uhr es ist. Die Idee war, dass ich so mit einem Blick auf mein Telefon sehen kann, dass es in der Tat besser wird, die Abstände länger usw. Jetzt ist es aber leider so, dass ich mit einem Blick auf mein Telefon sehe, dass es nicht besser wird. Während meine Eltern hier heldenhaft die Stellung gehalten haben, war Michel ebenfalls groß in Fahrt. Es tat mir leid, ich hätte ihnen eine etwas entspanntere Großeltern-Woche gewünscht. Aber ein klitzekleiner Teil von mir war auch ein bisschen erleichtert, nicht als Jammerlappen dazustehen, weil ich immer von Müdigkeit und Gebrüll erzähle und die Kinder plötzlich beide schlafen wie die Engelchen.

Ich hab die Kinder wirklich vermisst. Aber ich bin trotzdem froh, dass wir das gemacht haben. Es gibt verschiedene Arten von Erholung: die mit viel Schlaf, Bademänteln, Haarkuren und Herumlungern. Das hier war die andere. Auch im Urlaub haben wir selten mehr als fünf Stunden geschlafen, jeden Tag sind wir Kilometer um Kilometer weit herumgelaufen, und es war so heiß und schwül, dass ich an manchen Tagen drei mal geduscht habe. (L., das Wundertier, schwitzt nie.) Aber erholsam war es trotzdem, so viel Zeit zu haben, endlich mal wieder auszugehen, ohne auf die Uhr zu gucken, den ganzen Tag beide Hände frei zu haben, zu essen, ohne dass eine kleine Patschhand sich über den Tellerrand schiebt, die Zeitung zu lesen, ohne dass die gleiche Patschhand die Seiten zerkrumpelt und jede Menge kleine, scharfe und/oder stachelige Gegenstände herumliegen lassen zu können, ohne dass jemand auf die Idee kommt, damit Selbstmord zu begehen. Jeden Tag habe ich mir Kinderfotos auf dem Telefon angeguckt, und jeden Tag hatte ich meine sentimentalen zehn Minuten, in denen ich mich sofort nach Hause gebeamt hätte, wenn möglich. Zum Glück war es nicht möglich, denn die restlichen 23 Stunden und 50 Minuten war ich sehr glücklich, zu sein, wo ich war. Und jetzt bin ich wieder hier und auch darüber sehr froh. Michel krabbelt und strahlt jedes Mal, wenn er mich sieht (es sei denn, nachts zwischen zehn und fünf Uhr früh), und Kalle plappert und plappert und sagt die niedlichsten Sachen, reißt seit Neuestem sogar selbstgemachte Witze und erwärmt das müde Mutterherz, wo und wie er nur kann.

Michel kann nicht nur krabbeln, sondern ist auch mordsmäßig gewachsen. In die Babyschale des Einzelkinderwagens passt er schon lange nicht mehr. Wenn Kalle in der Kita ist, bin ich deshalb öfter mit ihm alleine im Doppelkinderwagen unterwegs. Und es vergeht wirklich keine noch so kurze Fahrt, ohne dass ich mindestens einmal von einer fremden Person gefragt werde, wo denn das Zweite ist? (Mit "fremder Person" meine ich wirklich fremde Person, die Kassiererinnen im Supermarkt usw. zähle ich da schon gar nicht mehr zu.) Ich antworte immer noch freundlich, aber ich kann nicht dafür garantieren, dass ich das immer weiter tun werde. Denn die Nachfragen kommen auch nicht immer im netten Plauderton, sondern manchmal ganz schön drängelig und zurechtweisend. Als würde die fragende Person befürchten, ich hätte Nummer zwei einfach irgendwo liegen gelassen und es nicht bemerkt. Eigentlich müsste ich mich inzwischen dran gewöhnt haben, dass Mütter und ihre Kinder für viele Leute zum Kommentieren da sind. Neulich war ich mit Michel im Doppelkinderwagen in einem Reformhaus. Der Wagen passte gerade so durch den Eingang, aber der Laden selbst war zu eng und vollgestellt. Also habe ich ihn kurz vor dem ersten Regal im ansonsten leeren Laden geparkt, um eben schnell mein vorbestelltes Shampoo an der Kasse einzusammeln. Zack, ging die Tür auf, eine ältere Frau pflanzte sich vor dem Kinderwagen auf und bellte mich an: "Gehört dieses Kind zu Ihnen?", erzählte mir was von verschwundenen Kindern, Verantwortungslosigkeit und versuchte dann, den Kinderwagen doch noch hinter mir herzuschieben. "Ein Kind gehört zur Mutter!" Es gab schon samstägliche Marktgänge, bei denen mir innerhalb weniger Minuten erst jemand sagte, meine Kinder wären zu kalt angezogen, und dann jemand anderes, ich sollte ihnen doch die Jacken ausziehen, die würden ja überhitzen. Die Reformhaus-Frau lieferte auch gleich die Begründung für ihr mutiges Eingreifen ab: heute wäre Zivilcourage gefordert, und sie würde nicht mehr schweigen, wenn sie "so etwas" sieht. In was für einer Welt leben wir, in der Mütter ihre Kinder einfach neben dem Regal mit den veganen Pasten parken und sich bis zu zwei Meter von ihnen entfernen? Andere wollen vielleicht einfach nur ein nettes Pläuschchen halten, wer weiß. Trotzdem wäre ich froh, sie würden einen anderen Anknüpfungspunkt finden. Ich hasse Einmischen, ich lasse es grundsätzlich bei anderen sein und wäre froh, wenn sie das genau so täten. Und unter den freundlichen Antworten staut sich ein so dicker Klops Gereiztheit an, dass vielleicht eines Tages jemand die volle Packung abbekommt, der doch nur nett fragen wollte... und sich nichts dabei gedacht hat... und es gar nicht böse gemeint hat. Und das täte mir leid.






Donnerstag, 11. Juni 2015

Die Anzeichen häufen sich.

An den Straßenecken knien Frauen und tauschen High Heels gegen Turnis oder umgekehrt.
Hinter der Sorte Fensterdeko, die bei uns überhaupt kein gutes Zeichen ist - schiefe Metalljalousien oder zerknitterte, angegammelte Rolleaus - verbergen sich hier unbezahlbare Luxusbuden.
Heute ist mir schon dreimal der gleiche dicke Mann begegnet, der mit freiem Oberkörper vor dem Weltuntergang warnt.
Obwohl die Bußgelder dafür bestimmt so hoch sind wie die für Rauchen in Parks, hupen die Autofahrer wie auf einer türkischen Hochzeit.
Ich werde täglich 20 mal gefragt, wie es mir geht, und 24 Stunden hier reichen, um meine Einstellung in puncto Klimaanlagen um 180 Grad zu wenden.
Der Portier in meinem Hotel ist um Längen besser angezogen als die meisten Gäste. Und eine der Hauptsorgen vieler Menschen scheint zu sein, beim Essen zu ersticken.

Auch wenn die Beweise überall klar und deutlich vor meinem rotgeränderten Augen stehen, kann ich es immer noch nicht so richtig glauben: wir sind in New York. Und die Kinder sind Zuhause, in der Obhut ihrer Großeltern. Eine Woche, in der wir schlafen können. Oder uns mittags um drei einen Film angucken. Oder schwarze Sachen anziehen ohne weiße Milchsabberflecken. Oder tanzen gehen. Oder ins Konzert. Oder einfach ein paar Stunden ziellos herumlaufen - hier ist es überall toll, und mal sehen, was so passiert. So viele Möglichkeiten!

Und nein, so leid es mir tut, meine Eltern kann man nicht mieten.